Die Lage ist ernst. Nein, sie ist lebensgefährlich. Jeden Moment könnte ihn ein Vogel schnappen. Bislang beißt ihm nur eine Garnele in den Schwanz. Aber auch das ist unangenehm. Der Wurm windet sich in der Wattpfütze hin und her, findet aber nicht den Weg in den rettenden Nordseeschlick. „Das Leben an der Küste ist hart“, sagt Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer und hockt sich hin, um das Schauspiel zu betrachten. Ich hocke mich neben ihn und starre mit ihm in die Wattpfütze. Ohne den Biologen hätte ich dem kleinen Rinnsal vermutlich kaum Beachtung geschenkt.
Plötzlich sehe ich ganze Schwärme von kleinen Garnelen. Und spaghettiförmige Sandhaufen, die von Wattwürmern stammen. Borcherding holt etwas aus dem Wasser, klein und schwarz. „So große Wattschnecken habe ich hier noch nie gesehen. Die müssen hier sehr glücklich sein.“
Küstenqueller, der Spargel des Meeres
Auch eine Strandkrabbe läuft über den Meeresboden, der in ein paar Stunden wieder von der Flut überspült sein wird. Borcherding fängt sie und setzt sie mir auf die Hand. Sie kneift mich kurz mit ihren Scheren, dann wird sie ganz ruhig. Die heiße Mittagssonne brennt auf ihren Panzer. Schnell setzen wir sie wieder in die Pfütze und setzen unseren Weg durch das Sandwatt fort.
„Im Wattenmeer gibt es vergleichsweise wenige, aber sehr robuste Arten. Denn die Bedingungen hier sind teilweise lebensfeindlich“, erklärt Borcherding. Wer hier klarkommen will, muss extreme Hitze und Kälte aushalten. Im Sommer heizen sich bei Ebbe die Wattpfützen auf 26 Grad auf, im Winter frieren sie bei minus 10 Grad zu.

Ich versuche, das Meer zu sehen, das sich im Rhythmus der Gezeiten zurückgezogen hat. Es ist noch einen Kilometer weit weg. Sein Blau erahne ich in der Ferne, wo es mit dem Himmel verschmilzt. Noch nicht einmal sein Rauschen ist zu hören. Stattdessen klingen mir der für die raue Nordsee ungewöhnlich milde Sommerwind und das Zwitschern einiger Rotschenkel in den Ohren.
Borcherding lenkt meinen Blick jetzt wieder auf das, was vor meiner Nase liegt. Auf den Mikrokosmos, den das Meer für ein paar Stunden freigegeben hat. Und der bedroht ist: Durch den ansteigenden Meeresspiegel verliert das Wattenmeer jedes Jahr 30 Meter in der Breite. Der Biologe pflückt eine kleine kaktusähnliche Pflanze, die überall im Sand wächst. Er fordert mich auf, sie zu kosten. Sie ist knackig – und schmeckt salzig. Der Küstenqueller ist der Spargel des Meeres und eine echte Delikatesse, lerne ich.
Das Watt – ein bedrohter Mikrokosmos
Wir biegen ab Richtung Festland, und sofort verändert sich die Landschaft. Statt der Sandsteppe, die fast schon an Wüste erinnert, sinken wir ein in feuchten Schlick. Ich halte gerade so das Gleichgewicht und wate dann durch einen kleinen Priel, der an einen versumpften Gartenteich erinnert. „Das ist Algenrasen. Der produziert so viel Sauerstoff wie ein Buchenwald“, erklärt mir Borcherding fast schon ehrfürchtig.
Nach dem Priel gehen wir zu dem schmucken rot-weißen Leuchtturm, für den Westerhever überregional bekannt ist. Wir waten durch die davor liegenden Salzwiesen, die fast nur bei Sturmfluten unter Wasser stehen und eine Errungenschaft des Nationalparks Wattenmeer in Schleswig-Holstein sind. Seit dessen Gründung vor 40 Jahren werden die Flächen vor dem Deich nicht mehr beweidet. So konnte sich hier ein neuer Lebensraum für Brutvögel und Pflanzen entwickeln.
Eine faszinierende Welt kennengelernt
Das harte Gras, das an Schilf erinnert, kratzt an den Füßen. Borcherding stapft munter voran, ich wäge jeden Schritt ab, weil ich nicht weiß, was sich im Gras versteckt. Am Leuchtturm angekommen, spritze ich meine Füße mit einem Gartenschlauch ab. Sie sind schwarz vom Nordseeschlick, ansonsten aber unversehrt.
Wieder auf dem Deich angekommen, lasse ich meinen Blick noch einmal über das Wattenmeer streifen. Das Meer kann ich immer noch nicht sehen. Aber das ist auch nicht schlimm. Stattdessen habe ich eine faszinierende Welt kennengelernt, in der Krebse, Würmer und Garnelen den Launen des Wassers und des Wetters trotzen – und das Beste daraus machen. Ein besseres Lebensmotto gibt es doch kaum, oder?
