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Warum Weihnachtsbräuche sich ständig verändern – und trotzdem bleiben

Professor Stephan Wahle ist Theologe an der Theologischen Fakultät Paderborn. Er forscht zu Weihnachtsbräuchen – im Interview spricht er darüber, warum sie wichtig sind.

Eine Weihnachtskrippe zeigt die Geburt Jesu – ein zentrales Motiv christlicher Weihnachtstraditionen, die sich über Jahrhunderte entwickelt und verändert haben
Eine Weihnachtskrippe zeigt die Geburt Jesu – ein zentrales Motiv christlicher Weihnachtstraditionen, die sich über Jahrhunderte entwickelt und verändert habenImago / Eibner

Bräuche, Traditionen – was ist der Unterschied?
Stephan Wahle: Umgangssprachlich geht das ineinander über. Wenn man Heiligabend in der Familie immer gleich begeht, mit einem spezifischen Essen, einem bestimmten Ablauf bei der Bescherung, vielleicht mit einem Gottesdienstbesuch, dann sprechen viele von einer Familientradition. Andere würden das als Weihnachtsbrauch beschreiben. Allgemein haben Bräuche einen etwas stärker rituellen Charakter, sind formalisiert und strukturiert und haben oft einen langen Überlieferungsprozess. Auch sind Bräuche im Vergleich zu Traditionen oft materieller. Es ist aber nicht ganz trennscharf.

Struktureller organisiert heißt, dass es eher eine Tätigkeit ist?
Ja, genau, das ist damit verbunden. So ist es ein Brauch, einen Weihnachtsbaum zu Hause aufzustellen. Man könnte sagen, zu vielen Familientraditionen gehört auch der Brauch, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Wie und wann er geschmückt wird, ist dann die Tradition einer Familie. In diese Richtung würde ich versuchen, das voneinander zu trennen.

Es ist also Tradition, bestimmte Bräuche zu übernehmen?
Das kann man so sagen. Es ist aber ein Gesetz, ein Strukturprinzip von Ritualen, dass Bräuche nie einfach nur übernommen werden, es gibt immer auch eine Anpassung. Übernahme und Adaption plus eigene Kreativität. Traditionen sind nie nur fest gefügte starre Gesetzmäßigkeiten, wie auch Rituale übrigens, sondern unterliegen einer gewissen Dynamik. Es gibt oft Wurzeln, den Ursprung eines Brauchs, der dann eben weiterentwickelt wird. Das wird Kulturtransfer genannt.

Das heißt, es gibt keinen Kern von Bräuchen oder Traditionen?
Ich wehre mich immer gegen die Frage nach dem Eigentlichen oder dem Kern. Mit der Aneignung von Bräuchen und Traditionen, der Übernahme und Veränderung bekommen sie eben auch einen neuen Sinngehalt, eine neue Sinnstiftung. Es gibt nicht nur die eine Deutung einer Tradition, gab es auch eigentlich nie. Es gibt immer eine Vielfalt von Bedeutungs- und Deutungsebenen.

Stephan Wahle ist Theologe und Naturwissenschaftlicher in  Paderborn
Stephan Wahle ist Theologe und Naturwissenschaftlicher in PaderbornTheologische Fakultät Paderborn

Was meinen Sie damit?
Bleiben wir bei Weihnachten. Da gibt es zunächst die kirchliche Ebene. Die Kirche feiert die Geburt Jesu Christi, das heißt die Menschwerdung Gottes. Oder hochtheologisch, dass das göttliche Wort Fleisch angenommen hat. Dann gibt es eine persönliche Ebene, das, was ich damit verbinde. Vielleicht ist Weihnachten für mich das Fest der Liebe. Zudem gibt es eine familiäre Bedeutung, die mit dem Fest verbunden wird, eine gesellschaftliche und auch eine ethisch-normative Dimension, nämlich, dass Weihnachten auch etwas mit mir zu tun hat.

Woher stammen Bräuche, wie entwickeln sie sich?
Der Mensch ist nicht nur ein denkendes und fühlendes Wesen, sondern als Leib-Seele-Einheit einer, der sich auch körperlich ausdrückt. Der Mensch ist ein Kulturschaffender, der etwas herstellt. Und schon mit der Sesshaft-Werdung des Menschen finden sich bestimmte Riten, zum Beispiel bei Beerdigungen. Diese wurden dann in einer Sippe oder Kultureinheit als Sitten oder Bräuche weitergetragen. Die Entstehung von Bräuchen ist also ein anthropologisches Grundprinzip. Später entstehen zu solchen Handlungen immer auch Erzählungen, die darübergelegt und dann prägend werden. So prägt die Weihnachtsgeschichte nach Lukas sehr stark die Art und Weise, wie sich das Weihnachtsfest und die Traditionen weiterentwickelt haben. Wobei wir uns heute fragen müssen, ob die großen Erzählungen noch tragen oder ob wir in einer Zeit der Mini-Erzählungen angekommen sind, wo mehr die Familiengeschichten existieren als die großen Zusammenhänge.

Und, wie sehen Sie das?
Für den deutschen Sprachraum muss man sagen, dass sich da deutlich etwas verschoben hat. Man kann empirisch nachweisen, dass die Relevanz des Weihnachtsfestes und der Weihnachtszeit bleibend hoch ist. Aber gefragt nach dem religiösen Motiv, muss man sagen, dass dies bei vielen nicht mehr vorhanden ist. Es ist ein besonderer Tag, ein besonderes Fest, vielleicht gehört sogar die Weihnachtsgeschichte dazu, aber ein kirchlicher Bezug ist bei den meisten nicht mehr vorhanden. Ich denke, heute wissen viele noch, was der eigentliche Grund für Weihnachten ist, aber ob das in Zukunft noch so sein wird, muss man abwarten.

Sind es Bräuche, die Weihnachten so populär gemacht haben?
Absolut. Weil sich das Brauchtum so stark ausgeprägt hat, konnte sich dieses Fest im Gegensatz zu anderen christlichen Festen durchsetzen. Es spricht einfach für sich und zu den Menschen. So steht der Baum mit seinen grünen Zweigen mitten in der kalten Jahreszeit auch für gutes Leben. Pfingsten hat auch Brauchtum hervorgebracht, aber wenn ich vom Pfingstochsen erzähle, dann kann fast niemand mehr damit etwas anfangen. Zu Weihnachten und zur gesamten Advents- und Weihnachtszeit gehört aber noch etwas, das zu einer zweiten Geburt des Festes im 19. Jahrhundert beigetragen hat, und das ist die Familienidentität, das Familienbild, das in dieser Zeit entstanden ist. Die Institution der bürgerlichen Familie, die Entdeckung der Kindheit als eigene Lebensphase, das ist mit dem religiösen Festgedanken quasi verschmolzen. Das hat Weihnachten so populär gemacht.

Wozu brauchen wir als Menschen so etwas wie Brauchtum?
Es gibt eine lange Geschichte vor uns, wir stehen in einer langen Tradition und Erzählkette. Durch Traditionen und Bräuche verorten wir uns, sind angebunden an die Geschichte und sie helfen uns auch. Zum Glück fällt Weihnachten jedes Jahr auf denselben Tag, das müssen wir nicht immer neu erfinden. Bräuche und Traditionen sind auch eine Vereinfachung des Lebens.

Wieso verschwinden manche Bräuche?
Bräuche müssen sich mit dem heutigen Denken und Fühlen verbinden lassen, wenn diese Anbindung nicht gelingt, dann verschwinden sie. Das kann man bei Ostern sehen: Die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung – was hat die mit meinem Leben zu tun? Wo finde ich diesen Gedanken in meiner Lebenswelt? Es fällt den Menschen schwer, das weiterzutragen. Bei Weihnachten ist das anders: Jeder war einmal Kind und kann sich über seine Kindheitserinnerungen damit verbinden. Interessant ist, dass viele der Weihnachtstraditionen aus dem deutschen Sprachraum kommen. Die Krippentraditionen, die Weihnachtsbäume, der Heiligabend, die Weihnachtslieder – vieles davon stammt aus Deutschland. Vor allem der Christbaum ist zu einem wahren Exportschlager in aller Welt geworden.

Die Weihnachtszeit fängt für viele immer früher an, machen die Menschen da etwas verkehrt?
In der Tat entwickelt sich der Weihnachtsbaum immer mehr zum Adventsbaum. Er wird immer früher aufgestellt. Nach dem 2. Weihnachtstag ist Weihnachten dann schon vorbei. Das finde ich schade, denn ein Fest sollte auch nachklingen dürfen. Zugleich kann ich es nicht verstehen, warum Gefühl oder Atmosphäre als etwas Falsches abgetan wird – als hätten die Menschen, die das machen, etwas nicht verstanden. Ich glaube, das Christentum der Zukunft wird sehr stark davon abhängen, ob wir es schaffen, diese emotionale Ebene als Ausdruck von Religiosität wertzuschätzen.

Wie sieht es aus mit Silvesterbräuchen?
Die Kirche hat sich lange Zeit schwergetan mit den Silvesterbräuchen und wollte sich abgrenzen zum heidnischen Silvester- oder Jahreswechselkult. Es gibt alte archaische Bräuche, die manche reaktivieren, wie Bleigießen, Horoskope oder bestimmte Essenstraditionen. Religiös anbinden lässt sich das aber nicht. Interessant ist aber vielleicht, dass trotzdem im Evangelischen der Altjahresabend einer der gefragtesten Gottesdienste im deutschen Sprachraum ist. Das vergangene Jahr mit Dank in Gottes Hände zu legen, ist durchaus eine konfessionsübergreifende Tradition.