Warum startet das orthodoxe Kirchenjahr am 1. September?
Am 1. September beginnt in der Orthodoxie das neue Kirchenjahr. Aus einem Steuerstichtag der römischen Bürokratie wurde ein symbolischer Jahresanfang, an dem der Neubeginn gefeiert wird.
Im Morgengrauen des 1. Septembers, tief in den Wäldern der russischen Region Kaluga nahe der kleinen Ortschaft Koselsk, rund um das Kloster von Optina, versammeln sich Jahr für Jahr die Mönche zur feierlichen Liturgie. Die Szenerie wirkt wie aus einer anderen Zeit: Es ist traditionell eher kühl, und ein sanfter Nebel hängt über den Hügeln und Wiesen, während das Läuten der Glocken in der morgendlichen Stille widerhallt.
Die Mönche, in ihre schwarzen Gewänder gehüllt, strömen schweigend in die kleine, schlichte Kapelle des Klosters, deren Holzwände den Duft von Weihrauch und jahrhundertealter Frömmigkeit verströmen. An diesem Septembermorgen herrscht eine besondere Stimmung, denn er markiert in den orthodoxen Kirchen nicht nur den Beginn des Herbstes, sondern auch den Beginn des Kirchenjahres – eine Zeit des geistlichen Aufbruchs und der Erneuerung und einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Ost- und Westkirchen.
Orthodoxes Kirchenjahr: Ursprung des 1. Septembers in der römischen Antike
Während die westlichen Kirchen mit dem Advent den liturgischen Jahreszyklus einläuten, beginnt in der Orthodoxie bereits im Spätsommer der geistliche Neubeginn. Dieser Tag, der „Indiktion“ genannt wird, ist tief in der Geschichte und Spiritualität der orthodoxen Kirche verwurzelt. Doch seine Bedeutung und die damit verbundenen Traditionen tragen auch für die evangelische Kirche wertvolle Impulse in sich. Ein Blick auf die historischen Wurzeln und die spirituelle Praxis dieses Tages kann helfen, die Bedeutung eines Neuanfangs mitten im Jahr für das kirchliche Leben und die persönliche Glaubensentwicklung neu zu entdecken.
Der Ursprung des 1. Septembers als Beginn des Kirchenjahres reicht weit zurück in die römische Antike. Ursprünglich war die „Indiktion“ ein administrativer Begriff, der sich auf einen 15-jährigen Steuerzyklus im Römischen Reich bezog. Zum 1. September wurde eine neue Steuerperiode eingeleitet, die eng mit den landwirtschaftlichen Zyklen und den Ernten verknüpft war. Die enge Verbindung von Natur und Jahreslauf, die in diesem Brauch zum Ausdruck kam, spiegelte sich später in der orthodoxen Tradition wider, in der der Wechsel der Jahreszeiten auch als Wechsel im geistlichen Leben verstanden wird.
Symbolischer Jahresbeginn, an dem Schöpfung und Neubeginn gefeiert werden
Als das Christentum dann im 4. Jahrhundert zur dominierenden Religion des Römischen Reiches wurde, übernahm die Kirche viele dieser weltlichen Bräuche und füllte sie mit neuer, spiritueller Bedeutung an. Um 311 nach Christus, im Rahmen der konstantinischen Wende, begannen gleichzeitig erste Bestrebungen der Kirche, den 1. September als liturgischen Neuanfang zu feiern. Er wurde zum symbolischen Jahresbeginn, an dem die Schöpfung und der Neubeginn gefeiert werden – eine Tradition, die bis heute fortgeführt wird. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich der Beginn des Kirchenjahres in den orthodoxen Kirchen zu einem wichtigen Tag der Reflexion und der geistlichen Erneuerung, der nicht nur für eine formale Wende im Kirchenkalender steht. Er bietet gleichzeitig Raum für einen tief spirituellen Moment, in dem Gläubige die Gelegenheit haben, das vergangene Jahr zu reflektieren und ihr Leben erneut auf Gott auszurichten. Dieser Neubeginn wird von besonderen Gebeten, Fasten und Liturgien begleitet, die den Gläubigen helfen sollen, den neuen Jahreszyklus bewusst und im Einklang mit Gottes Willen zu beginnen.
Eine der zentralen Lesungen an diesem Tag ist das Evangelium von Lukas 4,16-22, in dem Jesus in der Synagoge von Nazareth das Buch Jesaja aufschlägt und seine Mission verkündet: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen eine frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen die Freiheit, den Blinden das Augenlicht, den Zerschlagenen ihre Freiheit zu geben und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.“ Diese Worte Jesu, die sein gesamtes Wirken zusammenfassen, können zum Beginn des Kirchenjahres als Aufruf verstanden werden, das Leben nach dem Vorbild Christi neu zu adjustieren. In einer besonders bildhaften Heiligenerzählung aus dem 19. Jahrhundert wird die tiefe spirituelle Bedeutung dieses Neubeginns deutlich. Der Heilige Seraphim von Sarow, ein russischer Mönch, führte ein Leben des Gebets und der Einsamkeit in den Wäldern Russlands. Eines Tages suchte ihn ein junger Adliger namens Nikolai Motovilov, auf, der sich nach geistlicher Erleuchtung sehnte. Sie trafen sich im tiefen Winter, und während Seraphim sprach, geschah etwas Wunderbares: Ein strahlendes Licht umhüllte die beiden Männer, und Motovilov fühlte eine tiefe innere Wärme und Freude, die er später als „das Feuer des Heiligen Geistes“ beschrieb.
Ostkirche erinnert vor allem an die Bewahrung der Schöpfung
Solche Begebenheiten von Begegnungen mit Heiligen sind speziell in der Ostkirche vor großer Bedeutung. Sie erinnert daran, dass die Nähe zu Gott nicht auf besondere Orte oder Zeiten beschränkt ist. Sie kann überall und jederzeit geschehen, wenn ein Herz Offenheit beweist.
Seit 1989 ist ein weiterer relevanter Aspekt des Kirchenjahranfangs in der Orthodoxie seine Rolle als „Tag des Gebets für die Bewahrung der Schöpfung“. So wurde er vom Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. getauft und im Jahr 1992 von der gesamten orthodoxen Kirche übernommen. Vor allem im Hinblick auf die ökumenische Bewegung innerhalb Europas hat die sogenannte Schöpfungszeit seither an Bedeutung gewonnen.
In einer Zeit, in der die ökologischen Herausforderungen immer drängender werden, erinnert dieser Tag vor allem an die Bewahrung der Schöpfung als eine zentrale Verantwortung eines jeden Christen.
Die Beziehung zwischen Mensch und Natur soll dabei in den Vordergrund gerückt werden, um sichtbar zu machen, wie unser Handeln die Umwelt beeinflusst. Nicht nur die Orthodoxie sieht in der Schöpfung den sichtbaren Ausdruck von Gottes Liebe und Fürsorge, dessen Bewahrung der Schöpfung eine heilige Pflicht ist.
Die eigene Liturgie und Spiritualität neu zu betrachten
Der 1. September als Beginn des orthodoxen Kirchenjahres bietet eine reiche Quelle an spirituellen Impulsen, die weit über die Grenzen der orthodoxen Tradition hinaus relevant sind. Für Christen der westlichen Kirchentradition kann das Gedenken des östlichen Brauchtums eine Gelegenheit sein, die eigene Liturgie und Spiritualität neu zu betrachten. Die orthodoxe Betonung der zyklischen Erneuerung des geistlichen Lebens, die Verbindung von Liturgie und Schöpfung sowie die tiefe Verwurzelung des Glaubens im Alltag sind Glaubenspraktiken, die die Nähe von Ost- und Westkirche unterstreichen.
In einer Welt, die zunehmend von Hektik und Fragmentierung geprägt ist, kann der bewusste Neustart in das Kirchenjahr mittendrin ein Zeichen für alle Christen sein: Ein Zeichen für die Notwendigkeit, innezuhalten, die eigene Beziehung zu Gott und zur Schöpfung zu reflektieren und das Leben immer wieder neu auf das Evangelium auszurichten, so wie es die Mönche im Kloster Optina tun, wenn sie nach dem Ende der Liturgie ihre Stirn auf den kühlen Klostersteinboden legen und im stillen Gebet verharren. So kann der Beginn des orthodoxen Kirchenjahres auch in der evangelischen Kirche zu einem Moment des geistlichen Aufbruchs und der ökumenischen Verbundenheit werden.