War Immanuel Kant ein Rassist?

2024 ist das Jahr 300 nach der Geburt Kants. Doch nicht allen ist zum Feiern zumute. Denn der größte deutsche Philosoph steht seit einiger Zeit unter Rassismusverdacht. Einige Urteile gehören auf den Prüfstand.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Nicht nur wegen der schrecklichen Kriege, Konflikte und Klimaveränderungen. Sondern auch, weil die großen Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – in der Krise sind. Die Ermordung des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten in den USA 2020 hat diese Krise befeuert. Ist die universale Vernunft, die seit dem 18. Jahrhundert von liberalen Intellektuellen hochgehalten wird, in Wahrheit eine Form rassistischer und kolonialer Unterdrückung?

Alle Klassiker der Philosophie stehen jetzt unter Verdacht. Auch Immanuel Kant, der vor 300 Jahren in Königsberg geboren wurde und 1804 starb. Über ihn kursieren viele Urteile und Vorurteile. Der Kant-Forscher Otfried Höffe hat in seinem neuen Buch „Der Weltbürger aus Königsberg“ einige davon auf den Prüfstand gestellt. Ein Faktencheck:

– War Kant ein eurozentrischer Rassist? In seinem umfangreichen Werk gibt es in der Tat einzelne Stellen, in denen er von der Vollkommenheit der „Rasse der Weißen“ spricht und abwertend über Schwarze und Afrikaner. Im Mittelpunkt seines universalistischen Denkens steht aber das freie Subjekt, das jeder Mensch ist. Ein Rassist im heutigen Sinne war Kant nicht. Kolonialismus und Sklaverei hat er verurteilt. Und es gibt auch Passagen, in denen er zum Beispiel die Chinesen als das „kultivierteste Volk in der ganzen Welt“ bezeichnet.

– Hat Kant Frauen diskriminiert? Ja, er hat Frauen eine lediglich passive Staatsbürgerschaft zugewiesen und damit seinem eigenen Grundsatz der Gleichheit aller Menschen widersprochen. In der „Rechtslehre“ schreibt er: „Der Geselle (…) bei einem Handwerker; der Dienstbote (…); der Unmündige (…); alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (…) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit.“

– Vertritt Kant einen Speziesismus, also eine Gattungs-Überheblichkeit? Kant untersucht das, was alle sinnlichen und moralfähigen Vernunftwesen gemeinsam haben. Weil der Mensch die Freiheit und die Pflicht hat, moralisch zu handeln, hat er im Unterschied zum Tier eine Würde als Endzweck. Das heißt nicht, dass er Tiere misshandeln dürfte. Aber Überheblichkeit kann man sinnvollerweise nur Menschen vorwerfen. Auch Tierschützer stimmen mit Kant darin überein, dass Tiere im Unterschied zum Menschen für ihr Verhalten nicht moralisch oder rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.

– War Kant nur geisteswissenschaftlich interessiert? Nein, er hat mehrere naturwissenschaftliche Schriften verfasst. Seine Evolutionstheorie des Universums ist bis heute als Kant-Laplace’sche Theorie anerkannt.

– Hat Kant die Metaphysik abgeschafft? Nein, er hat sie neu definiert. Er zeigt, dass die Existenz Gottes nicht beweisbar ist, aber er stellt zugleich die Frage nach dem Sinn der Welt und betont: Die Idee der Existenz Gottes ist eine für die Vernunft notwendige Annahme, ebenso die Idee der Freiheit und der unsterblichen Seele. Kants Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ handelt zudem vom Moralbewusstsein, das er allen Menschen zuschreibt.

– Hat Kant sein ganzes Leben in einer verschlafenen Provinzstadt verbracht? Es stimmt, dass Kant nie über die Umgebung seiner Heimatstadt Königsberg hinauskam, aber die Hauptstadt von Ostpreußen war eine pulsierende Handelsstadt, ein „Venedig des Nordens“. Zudem hat Kant sehr viele Reiseberichte aus anderen Ländern gelesen und war kosmopolitisch ausgerichtet.

– War Kant ein verschrobener Stubengelehrter und Misanthrop? Nein. Er hatte zwar einen streng geregelten Tagesablauf, genoss aber ausgedehnte Mittagsmahle im Kreise von Freunden und Bekannten. Er liebte Billard und Kartenspiele, ging ins Theater und galt in den Salons der Stadt als charmanter Unterhalter.