Vorsicht, Vorsicht, Gott sieht!

Ja, gibt es das denn noch: Sünden? Und dann gar noch Todsünden. Start der neuen Serie in der Passionszeit. Sünde Nummer eins: Hochmut ist, wenn der Mensch sich eine Vollkommenheit beimisst, die bei ihm nicht zu finden ist.

Der moderne Mensch stellt sich selbst zur Schau, inszeniert sich, betrachtet sich als das Maß aller Dinge. Er empfindet seine Talente nicht als Gabe, Begabung, Geschenk, da er alles sich selbst und seinem Ich zuschreibt. Dem Gemeinwohl dient das nicht.

Hieronymus Bosch malt vor über 500 Jahren eine Tischplatte – 1,20 mal 1,70 Meter – mit sieben Todsünden. In der Mitte des inneren Kreises schaut der Schmerzensmann den Betrachter an. Eine Inschrift warnt: „cave, cave Deus videt“ – Vorsicht, Vorsicht, Gott sieht.

Als einzige der sieben Sünden malt Bosch den Hochmut mit nur einem Menschen als Zentrum des Bildes: Ein Dämon hält einer mit dem Rücken zum Betrachter stehenden Frau einen Spiegel vor.

Mit dem Rücken zum Betrachter und zur Welt spiegelt sich der Mensch und brüskiert seine Mitmenschen. Sein Gegenüber ist er selbst – im Spiegel, gehalten von Luzifer, dem gefallenen Engel der Bibel. Wie Narziss in der griechischen Mythologie wird der Hochmütige in unstillbarer Liebe zu seinem Abbild verfallen. Bosch ahnt noch nichts vom wachsenden Selbstbewusstsein des Menschen am Übergang des Mittelalters zur Neuzeit.

„Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“ Mit diesen Worten schloss Martin Luther am 17. April 1521 seine Verteidigungsrede vor dem Kaiser und den Kurfürsten auf dem Reichstag zu Worms. Luther hat gesagt: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.“ Er beharrt auf seiner Lesart und seiner Deutung der Heiligen Schrift, unterwirft sich nur dem eigenen Gewissen, das seinen Bezugspunkt in Gott hat.

Hochmut gegenüber dem Reichstag und dem Kaiser? Nein, Standfestigkeit und Vertrauen auf die eigene Urteilskraft. Martin Luthers Beharren, hier und jetzt und nicht in einer anderen Welt, ist ein erster gewaltiger Ansatz, den schwierigen Weg zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) zu finden.

„Und sie bewegt sich doch“, soll Galileo Galilei im Juni 1632 beim Verlassen des Gerichtssaales als gebrochener Mann gemurmelt haben. Trotz des ihn vernichtenden Urteils und trotz seines Widerrufes bleibt Galilei im Innersten seines Wesens von der Richtigkeit seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnis überzeugt – entgegen dem erklärten Willen der Kirche, die am geozentrischen Weltbild festhält. 360 Jahre später erst wird ihn Papst Johannes Paul II rehabilitieren.

Hochmut? Ja, aus damaliger Sicht schon möglich. Nur 100 Jahre liegen zwischen dem Reichstag zu Worms und dem Inquisitionsprozess gegen Galilei, und doch öffnet seine Erkenntnis ein weiteres Tor zur intensiven Beschäftigung mit dieser Welt – trotz der Warnungen der Kirche und Verweise auf sündhaftes, weil hochmütiges und daher zu bestrafendes Verhalten.

Als Albert Einstein mit seinem physikalischen Weltbild die Forschung im 20. Jahrhundert prägt, eröffnet auch er neuem Wissen den Weg. Und mit diesem Wissen löst sich die moderne Wissenschaft vom Erkennen dieser Welt. „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, schreibt Goethe im Faust I. Sie will und wird in dieses Innerste eingreifen.

„Du spielst Gott“, erklärt der in New York arbeitende Genforscher Gianpiero Palermo ohne Scheu. Pränatale Diagnose, künstliche Befruchtung, Klonen menschlicher Eizellen – all das wendet oder strebt sein Team an. Nichts zählt, außer der empirischen Erfahrung und dem eigenen Verstand. Der moderne, westlich geprägte Mensch will zum Maßstab des eigenen Handelns werden.

Hochmut ist, wenn ein Mensch sich eine Vollkommenheit beimisst, die bei ihm nicht zu finden ist, sagt Spinoza. Und wendet sich dem diesseitigen Fehlverhalten des Hochmütigen zu, das er tadelt. „Ich danke dir“, heißt es in einem Gleichnis aus Lukas im Kapitel 18, „dass ich nicht wie die anderen Menschen bin oder auch wie jener Zöllner dort“. Oder soll es gleich heißen wie jener Türke dort? Oder Penner? Oder wer sonst noch ausgegrenzt werden soll.

Stolz – Hoffart – Selbstüberschätzung – Hochmut: Es gibt viele Gesichter der superbia, über die schon Kaiser Karl IV in der Eröffnung seiner Goldenen Bulle von 1356 als zerstörerische Kraft eines Gemeinwesens reflektiert. Missgunst und Uneinigkeit benennt er als superbias Gehilfen. Hochmut als Todsünde begriffen birgt heute die Gefahr, sich im erhofften Tausch auf ein himmlisches Glück der schwierigen Suche nach dem irdischen Glück zu versagen.

Gerd-Theo Umberg war von 1996 bis 2004 Intendant des Staatstheaters Darmstadt. Ab 2002 lehrte er als Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt Theater und Orchestermanagement.