Vor 70 Jahren ereignete sich in Bern ein Fußballwunder

Die Radioreportage vom Finale der Fußball-WM 1954 in Bern gab es seinerzeit sogar auf Schallplatte. “Das Spiel ist aus!”, jubelte Reporter Herbert Zimmermann zum Schluss. Doch das stimmte nicht ganz.

“Nehmt ab sofort das Kopfballspiel als bevorzugte Übung in euer Trainingsprogramm auf.” Das legte Sepp Herberger, Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft, den “lieben Kameraden” zu Jahresbeginn 1954 nahe. Da wollte offenbar jemand hoch hinaus. Doch was dann vor 70 Jahren, am 4. Juli, im Finale der Weltmeisterschaft in der Schweiz tatsächlich geschah, konnte selbst ein Taktikfuchs wie Herberger nicht vorhersehen. Im Berner Wankdorf-Stadion bezwang seine Elf die Favoriten aus Ungarn mit 3:2. Die Männer um Kapitän Fritz Walter wurden zu Instant-Idolen der frühen Bundesrepublik.

Erstmals bei einer WM konnten Zuschauer das Geschehen direkt im Fernsehen verfolgen. Allerdings gab es damals gerade mal 40.000 Geräte im Westen Deutschlands. Zu den Bildern in Schwarz-weiß gesellte sich in der kollektiven Erinnerung deswegen die markante Stimme von Radioreporter Herbert Zimmermann. “Deutschland im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft: Das ist eine Riesen-Sensation, das ist ein echtes Fußballwunder.”

So stieg Zimmermann ein, der sich laut Angaben von Kollegen akribisch auf seinen Einsatz vorbereitet hatte. Zunächst verlief die Partie im Dauerregen – dem später so bezeichneten “Fritz-Walter-Wetter” – eher erwartbar ab. Schon nach acht Minuten lagen die Ungarn mit ihrem Superstar Ferenc Puskas 2:0 vorn. Doch bereits in der 18. Minute hatten die Deutschen nach Toren von Max Morlock und Helmut Rahn überraschend gleichgezogen. Nicht nur die 62.471 Zuschauer witterten jetzt, dass etwas Besonderes in der Luft lag. “Als ich einmal in die müden Gesichter meiner Mitspieler sah, spürte ich plötzlich zum ersten Mal, dass es eng werden könnte”, gab Verteidiger Jenö Buzansky später zu Protokoll.

In der deutschen Kabine entlud sich zur Halbzeitpause ein kleines Gewitter. Mehrere Spieler grätschten sich gegenseitig verbal ab, sodass schließlich Trainer Herberger ein Machtwort sprach. “Jetzt ist aber Ruhe. Wir können hier Weltmeister werden, und ihr kriegt euch in die Haare. Jetzt rede ich. Kämpft. Einer für alle, alle für einen. Das war und ist unser Motto. So, und nun raus auf den Platz – ihr wisst, worum es geht!”

Draußen regnete es weiter, und die Ungarn versuchten, eine Entscheidung zu erzwingen. Vor allem die Vorstöße des rechten Läufers Jozsef Bozsik trieben Kommentator Zimmermann an den Rand des Wahnsinns. “Bozsik, immer wieder Bozsik”, stöhnte er ins Mikrofon. In der 84. Minute kam dann der große Moment des Helmut Rahn. “Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!” Der Rest ist Geschichte – mit freundlicher Unterstützung des walisischen Linienrichters Mervyn Griffiths, der vier Minuten vor Schluss ein Tor von Puskas wegen vermeintlicher Abseitsstellung nicht anerkannte.

Auch davon unabhängig gäbe es 70 Jahre nach dem Abpfiff noch so einiges zu bereden. Bis heute nicht komplett aufgeklärt wurde zum Beispiel die Sache mit den leeren Glasampullen, die der deutsche Tross in der Kabine und im legendären Hotel Belvedere in Spiez am Thuner See hinterließ. War der Inhalt tatsächlich nur für Vitaminspritzen gedacht?

In seinem Buch “Die Könige der Welt” schreibt Sportjournalist Florian Kinast über eine Studie deutscher Sporthistoriker. Die habe 2010 den Schluss nahegelegt, dass sich in den Ampullen möglicherweise Pervitin befand. Ein Aufputschmittel, dass bei den Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg als “Panzerschokolade” bekannt war. Wie Kinast weiter festhält, trugen verunreinigte Mehrwegspritzen eventuell auch zu einer Serie an schweren Gelbsuchtfällen in der deutschen Mannschaft bei.

Unmittelbar nach dem Schlusspfiff in Bern schossen die deutschen Fans ein veritables Eigentor. Sie stimmten, nur neun Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, die verfemte erste Strophe des Deutschlandliedes an, “Deutschland, Deutschland über alles.” Die Schweizer Radiosender brachen daraufhin die Übertragung aus Bern ab.

Ins braune Abseits dribbelte sich kurz darauf auch der damalige DFB-Präsident Peco Bauwens, der zwei Tage nach dem Finale bei einem Empfang im Münchner Löwenbräukeller in Herbergers Kickern eine “Repräsentanz besten Deutschtums” zu sehen glaubte und vom “Führerprinzip im guten Sinne des Wortes” schwafelte. Diesmal verabschiedete sich der Bayerische Rundfunk vorzeitig.

Für Wallungen im konservativen Milieu sorgte unterdessen Reporter Zimmermann wegen seiner überschäumenden Begeisterung über Torhüter Toni Turek. Dessen Paraden hatte er kommentiert mit: “Turek, du bist ein Teufelskerl – Turek, du bist ein Fußballgott.” Sein Sender NWDR zeigte Zimmermann aufgrund zahlreicher Beschwerden die Gelbe Karte.

Und die Ungarn? Hatten bereits Sonderbriefmarken für den Gewinn des WM-Pokals drucken lassen und hinter dem Budapester Nep-Stadion die Sockel für 17 überlebensgroße Denkmäler errichtet. Umso größer war die Enttäuschung nach der Niederlage. Laut Buchautor Kinast wurde der Misserfolg im Fußball zu einem Ventil für den Frust der vom kommunistischen Regime geknebelten Bevölkerung.

Es begann zu gären in dem Land; zwei Jahre später kam es zu einem Volksaufstand. “Ohne die Niederlage von ’54 hätte es 1956 nicht gegeben”, zitiert Kinast den ungarischen Torhüter Gyula Grosics, der wenige Monate nach dem Finale wegen angeblicher Spionage vor Gericht gezerrt wurde. Wunderstürmer Puskas wanderte nach Spanien aus – und lief bei der WM 1962 sogar noch einmal für sein neues Heimatland auf.

Tragisch, mit einem Verkehrsunfall, endete 1966 das Leben von Reporter Herbert Zimmermann. Der Freund gepflegter Maßanzüge und guter Restaurants, der sich gelegentlich als “Peter Stuyvesant – Der Duft der großen weiten Welt” vorstellte, hatte kurz zuvor noch im Radio das WM-Finale von 1966 kommentiert, ein weiterer Referenzpunkt deutscher Fußballgeschichte.

Von den Finalisten, die 1954 auf dem Rasen standen, lebt niemand mehr. Als Letzter starb im Dezember 2021 Horst Eckel. Ob der WM-Gewinn nun ein Wunder oder nur harte fußballerische Arbeit gewesen sei, wollte die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) 2018 von ihm wissen. “Wenn es überhaupt ein Wunder war, dann das von Sepp Herberger”, entgegnete Eckel. Auch wenn die von Herberger angemahnten Kopfballqualitäten im Finale nicht spielentscheidend waren.