Vor 600 Jahren mussten die Juden Köln verlassen
Die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen – und dann ist auf einmal Schluss. Vor 600 Jahren verwies Köln seine Juden der Stadt. Viele zogen darauf gen Osten, manche kamen dabei nur ein paar Hundert Meter weit.
“Gibt es denn etwas Schrecklicheres, als mit Weib und Kind von dem heimathlichen Heerd vertrieben zu werden und nicht zu wissen, wo man in der nächsten Nacht sein Haupt bettet, und wo man einen Bissen Brod für die Kleinen hernimmt?!” Dramatische Worte, die der Kölner Lokalhistoriker Carl Brisch im 19. Jahrhundert fand. Bezogen waren sie auf einen aufsehenerregenden Vorgang in der rheinischen Metropole, der zu Brischs Lebzeiten schon mehr als 400 Jahre zurücklag. Damals, im Herbst 1424, mussten alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde – wohlgemerkt die älteste ihrer Art nördlich der Alpen und eine der größten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen – Köln verlassen. “Auf ewige Zeiten”, wie es im damaligen Beschluss des Kölner Rates hieß.
In der Stadt traf die Ausweisung 30 steuerzahlende Familien. Der Rat erlaubte immerhin den Betroffenen, ihr Hab und Gut mitzunehmen, statt sie zu enteignen und auf diese Weise Profit zu machen. Die Kölner Synagoge wurde nach der Vertreibung sofort umgebaut zur Ratskapelle Sankt Maria in Jerusalem. Zum 1. Oktober 1424 endete das jüdische Leben in der Domstadt für fast 400 Jahre.
So groß der von Lokalhistoriker Brisch beschriebene Schock für die Juden auch war, überraschend dürfte die Ausweisung für die meisten Gemeindemitglieder nicht gekommen sein, sagt die Historikerin Christiane Twiehaus. “Köln ist im 15. Jahrhundert kein Einzelfall gewesen. Auch in anderen Städten im Reich und in Europa wurden die jüdischen Gemeinden im Mittelalter vertrieben.” Die Judaistin leitet die Abteilung Jüdische Geschichte und Kultur bei MiQua, dem geplanten jüdischen Museum des Landschaftsverbands Rheinland in Köln. Es entsteht in der Innenstadt in der ehemaligen Mikwe, dem rituellen Bad der jüdischen Gemeinde.
Viele Kölner Juden verließen die Stadt gen Frankfurt. Die dortige Gemeinde setzte sich danach größtenteils aus Kölner Juden zusammen, erklärt die Historikerin. Doch nicht nur in der weit entfernten Freien Reichsstadt am Main, sondern auch nur wenige Hundert Meter auf der anderen Rheinseite lebte das Erbe der Kölner jüdischen Gemeinschaft weiter: im damals noch eigenständigen Deutz.
Dort standen die Juden unter dem direkten Schutz des Landesherren, des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers. Ironischerweise könnte dessen Schutzherrschaft über die Juden auch mitverantwortlich sein für deren Vertreibung aus Köln. Schon der jüdischstämmige Historiker Brisch deutete die Ereignisse hauptsächlich als Folge eines Machtkampfes zwischen den Kölner Stadtmagistraten und ihrem Erzbischof, in dem die Juden die Leidtragenden waren. Der Clinch zwischen Kurköln und Stadt Köln zieht sich durch die gesamte Stadtgeschichte. Daher ist es wohl nicht falsch, die Vertreibung auch als Demonstration des Selbstbewusstseins der Stadt gegenüber dem Erzbischof und letztlich auch dem Kaiser zu sehen.
Andererseits verzichtete die Stadt durch die Ausweisung bewusst auf Steuereinnahmen, was eher gegen ein reines politisches Kräftemessen spricht. Zudem war es zu diesem Zeitpunkt noch keine 80 Jahre her, dass im Zuge der großen Pestepidemie 1349 fast alle Kölner Juden durch den aufgebrachten Pöbel ermordet wurden. Dass Brisch als jüdischer Historiker im 19. Jahrhundert gegenüber Stadt und Erzbischof, den er den Juden als zugeneigt beschreibt, einen eher vorsichtigen Ton anschlägt, ist indessen wenig verwunderlich.
In der Folge entwickelte sich Deutz rasch zum Zentrum der kurkölnischen jüdischen Gemeinde. Der Deutzer Rabbiner durfte zunächst den Titel “Landesrabbiner von Cöln” führen, erst ab den 1580er Jahren ging dieser Titel nach Bonn, was kurz darauf auch offizielle Residenzstadt der Erzbischöfe wurde.
Auch ihre Geschichte wollte die Deutzer Gemeinde offenbar aus Köln mitnehmen. Darauf deutet zumindest das sogenannte Memorbuch hin, in dem die Gemeinde verstorbene Mitglieder und wichtige Ereignisse verzeichnete. “Das Deutzer Memorbuch enthält explizite Hinweise auf Ereignisse in der Kölner Gemeinde im Mittelalter. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Deutzer Juden sich in der Nachfolgeschaft der Kölner sahen”, erläutert Twiehaus.
In den folgenden fast 400 Jahren war es den Deutzer Juden nur am Tag möglich, sich in Köln auf der anderen Rheinseite aufzuhalten. Und auch nur mit einer Sondergenehmigung und in Begleitung. Erst nach der Besetzung des Rheinlands durch die französischen Truppen und der Ausbreitung des Gedankenguts der Revolution konnten die Juden 1798 wieder in die Stadt am Rhein zurückkehren, die sich heutzutage gerne ihrer großen Toleranz rühmt. Mehr als 7.000 Kölner Juden wurden im Holocaust getötet. Heute zählt die jüdische Gemeinde der Stadt wieder knapp 4.000 Mitglieder.