Vor 60 Jahren veränderte “Lumen gentium” die katholische Kirche

Vor 60 Jahren beschloss das Zweite Vatikanische Konzil einen Text, der in der katholischen Kirche bis heute nachwirkt. Welches Potenzial in ihm steckt, hat nicht nur Papst Franziskus erkannt.

Wenn neuerdings katholische Bischöfe, Priester und Laien gemeinsam über die Zukunft der Kirche beraten, berufen sie sich auf ein Dokument, das vor 60 Jahren beschlossen wurde. Es hat die Idee der Kirche von sich selbst grundlegend verändert. Der Text trägt den Titel: “Lumen gentium” (Das Licht der Völker). Beim Zweiten Vatikanischen Konzil wurde es am 21. November 1964 beinahe einstimmig beschlossen. Er ist seither der Grundlagentext für die Verfassung der katholischen Kirche.

Auch nach 60 Jahren ragt “Lumen gentium” wie ein Berggipfel aus einem Nebelmeer unzähliger kirchlicher Dokumente heraus. Ob es das “Priestertum aller Getauften” ist, das der Synodale Weg in Deutschland ins Feld führt, oder die Berufung aller Mitglieder der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums, die bei der jüngsten Weltsynode im Vatikan oft zitiert wurden – immer wieder ist es der Referenzpunkt.

Doch ausgerechnet der Text über das Wesen der Kirche war auf dem Konzil selbst höchst umstritten. Als einziges der 16 Konzilsdokumente wurde er auf Geheiß von Papst Paul VI. zusammen mit einer nachgeschobenen “Note” veröffentlicht. Die hielt fest, dass der Primat des Papstes trotz aller im Dokument beschlossenen Reformen unantastbar bleibt.

Die weltweiten Bischofssynoden, die Papst Paul VI. erstmals 1967 einberief und die in jüngster Zeit von Papst Franziskus neu gefasst wurden, spiegeln bis heute das wider, was durch “Lumen gentium” grundgelegt wurde. Theologen fassen es mit dem Begriff “cum Petro et sub Petro” zusammen. Das bedeutet: Die Synode entscheidet mit – und gleichzeitig unter dem Papst.

Dieses typisch katholische “Sowohl-als-auch” von Monarchie und Mitbestimmung unterscheidet sich deutlich von protestantischen oder orthodoxen Synoden. Bei ihnen wählen Kirchenparlamente die Oberhäupter und entscheiden mit Mehrheit über kirchliche Gesetze und Lehren. Die Minderheit gründet dann aber auch gerne mal eine eigene Kirche. Denn es gibt dort keinen Papst, der am Ende durch seine verbindliche Autorität “den Laden zusammenhält”.

Doch das Dokument “Lumen gentium” befasst sich nicht nur mit der Frage, wie die Mitsprache der Bischöfe und die Autorität des Papstes einander einschränken und ergänzen. Das zweite wichtige Thema ist die Stellung der sogenannten Laien in der Kirche. Hier versucht das Dokument, den Widerspruch aufzulösen, den die Reformatoren messerscharf bloßgelegt hatten: Wenn alle Christen durch die Gnade des Taufsakraments “Christus gleich geworden” sind, warum dürfen dann nur jene, die außerdem noch die Priesterweihe empfangen haben, die Kirche lehren und leiten?

Für die Konzilsväter im Jahr 1964 war klar, dass sie neue Antworten finden mussten. Sie sollten zwar mit den biblischen Forderungen zu diesem Thema übereinstimmen; dennoch wollten sie die kirchliche Hierarchie und die auf das Priestertum angewiesene Sakramentenlehre der katholischen Kirche nicht zum Einsturz zu bringen.

Wieder versuchten es die Konzilstheologen mit einem “Sowohl-als-auch”. Einerseits, so die Lösung, partizipieren alle Christen durch die Taufe an der “priesterlichen, prophetischen und königlichen Sendung Christi”. Auch jene, die nicht zum Priester geweiht sind, haben also bereits durch die Taufe Anteil am “gemeinsamen Priestertum”.

Doch daneben gibt es ein besonderes Priesteramt, das mit der Rolle der “Hirten” ausgestattet ist. Die göttliche Vollmacht, in besonderer Weise im Gottesdienst “in Person Christi” zu handeln, haben nur jene, die eine Weihe erhalten haben, also die Kleriker. Und sie verwalten die Aufgaben des Verkündens, der Heiligung und der Leitung in besonderer Weise.

Das Potenzial, das in der Formulierung vom “gemeinsamen Priestertum der Getauften” enthalten ist, hat seine volle Wirkung erst beim Reformprojekt Synodaler Weg in Deutschland entfaltet und zu neuen Konflikten mit Rom geführt. Aber auch in der jüngsten Weltsynode im Vatikan diente diese Idee zur Legitimierung von Reformideen.

Hinzu kam dort eine weitere Lehre, die 60 Jahre zuvor erstmals in “Lumen gentium” entwickelt wurde. Es ist die Idee, dass die Kirche nicht in erster Linie eine unveränderbare Hierarchie ist, sondern ein “pilgerndes Gottesvolk”. Und in dem sind alle Glieder – also auch die Laien – gemeinsam unterwegs und machen das aus, was und wie die Kirche ist.

Papst Franziskus hat diesen Begriff kreativ erweitert. Nach seinem Willen soll das gesamte Gottesvolk mit an Entscheidungsprozessen über die Zukunft der Kirche beteiligt werden. Verwirklicht hat er dies ansatzweise, indem er zu den Versammlungen der weltweiten Bischofssynode neben Klerikern auch Laien berief. Bei der Weltsynode hat sich im Oktober gezeigt, dass auch diese Lehre aus dem Dokument “Lumen gentium” noch Potenzial hat, die Gestalt und das Leben der Kirche zu verändern.