Vor 50 Jahren wurde Äthiopiens letzter Kaiser gestürzt
Seine Dynastie führte ihre Ursprünge auf den biblischen König Salomo zurück, er selbst galt als 225. Monarch aus dem Hause David. Haile Selassie I., Äthiopiens letzten Kaiser, brachten höchst irdische Probleme zu Fall.
“Negusa Negast”, “Siegreicher Löwe von Juda”, “Auserwählter Gottes”: Die vielen Titel von Haile Selassie I. sind mindestens ebenso schillernd wie die Geschichten, die über den letzten äthiopischen Kaiser erzählt werden. Als der spätere Monarch am 23. Juli 1892 als Tafari Makonnen in der Kleinstadt Egersa Goro im Osten Äthiopiens zur Welt kam, soll den Eltern ein Einsiedler zuvor prophezeit haben, dass ihr Junge seinem Land dereinst “Größe und Stolz” verleihen werde. “Zuletzt aber wird er all das, was er aufgebaut hat, von eigener Hand zerstören und Äthiopien in Ruinen zurücklassen.”
Vor 50 Jahren, am 12. September 1974, schien sich diese Vorhersage zu erfüllen. Damals sorgte die TV-Dokumentation des britischen Journalisten Jonathan Dimbleby über eine Hungerkatastrophe in dem nordostafrikanischen Land weltweit für Furore. Am Vorabend seiner Absetzung zwangen meuternde Militärangehörige den Kaiser, sich den Film anzusehen. Tags darauf wurde der 82-Jährige in die Palastbibliothek geführt, wo ihm ein Offizier eine Proklamation vorlas.
Haile Selassie habe “die Autorität, die Würde und die Ehre des Throns für seine persönlichen Ziele missbraucht”, hieß es darin. “In der Folge herrschten in unserem Land Armut und Verfall. Nun ist der Monarch in ein Alter gekommen, in dem er nicht mehr in der Lage ist, seine Amtsgeschäfte auszuführen. Deshalb wird Seine Majestät, Haile Selassie I., mit sofortiger Wirkung des Amtes enthoben und durch eine provisorische Militärregierung ersetzt.”
Der “kleine Mann mit dem stolzen Gesicht”, als den ihn sein Großneffe Asfa-Wossen Asserate beschreibt, lebte ein Leben der Extreme. Der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski lässt Haile Selassie, die “Macht der Dreifaltigkeit”, in seinem Buch “König der Könige” als Operettenherrscher erscheinen, der jegliche Verbindung zum Volk verloren hatte – und sich stattdessen einen riesigen Hofstaat leistete, in dem ein Diener eigens dafür angestellt war, die Exkremente des kaiserlichen Lieblingshundes mit einem Tuch aus Atlas-Stoff aufzuwischen.
Doch diese absurden Momentaufnahmen, deren Authentizität laut Asserate dazu noch umstritten ist, spiegeln wohl vor allem die Endphase des kaiserlichen Regimes in den späten 1960er Jahren wider. Zu Beginn seiner Karriere glänzte der Sohn des kaiserlichen Gouverneurs (“Ras”) Makonnen Walda Mikael dagegen mit politischem Instinkt und einer guten Portion Durchhaltevermögen.
Während der 1920er-Jahre setzte er sich in den Wirren um die Thronfolge gegen seine Mitbewerber durch und leitete einen Modernisierungskurs ein, der vor allem die Einheit des in viele Ethnien zersplitterten Staatswesens vorsah. Nach dem Einmarsch der italienischen Armee in Äthiopien ging er 1936 nach Großbritannien ins Exil und kehrte erst 1941 mit Unterstützung britischer und französischer Truppen zurück.
Im Ausland genoss der spätere Mitbegründer der Organisation für Afrikanische Einheit – heute: Afrikanische Union – als Regierungschef einer der ältesten Nationen Afrikas hohes Ansehen. Das zeigte sich auch am 8. November 1954, als Haile Selassie der noch jungen und vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten “Bonner Republik” als erster Staatsgast seine Aufwartung machte.
Nur gute fünf Jahre nach dem triumphalen Empfang in Bonn begann für Selassie mit einem ersten Putschversuch die Zeit des Niedergangs. Es folgten Studentenunruhen, Hungerkrisen und weitere Aufstände des Militärs, die schließlich im Herbst 1974 in seine Entmachtung mündeten. “Der Kaiser hatte sich selbst überlebt”, urteilt dessen Großneffe Asserate rückblickend. Zwar gehöre er zu den Verantwortlichen, “die Äthiopien aus dem tiefsten Mittelalter direkt ins 20. Jahrhundert gepusht haben”. Doch habe er nach den Unruhen Anfang der 1960er-Jahre die Rufe aus seinem Umfeld ignoriert, einen Wandel hin zu Demokratie und zu einer gerechteren Verteilung von Land einzuleiten.
Am 27. August 1975 starb der “erhabene Wohltäter”, vermutlich durch fremde Hand, in seinem Palast. In den Folgejahren etablierte Mengistu Haile Mariam eine sozialistische Diktatur, die bis 1991 für Hunderttausende Äthiopier Tod und Terror bringen sollte.
Das Ableben Haile Selassies beendete auch die jahrhundertelange Herrschaft einer christlichen Dynastie, die ihre mythischen Ursprünge auf den biblischen König Salomo zurückführte. Ein bizarres Nachleben bescherte ihm eine religiöse Bewegung auf den karibischen Inseln. Die vor allem durch die Reggae-Musik bekannt gewordenen “Rastafari” leiteten ihre Bezeichnung vom ursprünglichen Namen und Titel des letzten äthiopischen Kaisers ab. Manch einer in Äthiopien trauert unterdessen den alten Zeiten hinterher, wie jener Taxifahrer in der Hauptstadt Addis Abeba, der in seinem Auto ein Bild des Kaisers hängen hat. “Das ist unser Vater, den man uns vor 50 Jahren weggenommen hat. Seitdem sind wir Waisen.”