Von wegen Sonntagsruhe: Es wird immer mehr gearbeitet
Auf dem Papier ist die Sonntagsruhe in Deutschland verfassungsrechtlich geschützt. Doch die Realität sieht anders aus – wegen vieler Ausnahmen.
Das christliche Gebot des Sonntags als Gelegenheit der Anbetung und des Abschaltens ist tief in der europäischen Gesellschaft verankert – in Deutschland so sehr, dass es Verfassungsrang erlangt hat. Und doch scheint es im Alltag mitunter fast vergessen.
Das Grundgesetz gibt dem Sonntag ausdrücklich den Zweck der „Arbeitsruhe und seelischen Erhebung“. Klingt christlich, ist auch christlich – soll es aber nach heutiger gesetzgeberischer Auslegung nicht mehr sein: „Mit der Formulierung von Artikel 139 GG sollte eine säkularisierte Formel des christlichen Sonntags etabliert werden“, erklärt Rechtsanwalt Daniel Barrera Gonzalez. De facto habe das aber nichts an dem Schutzauftrag für Sonn- und Feiertage geändert. Grundsätzlich gilt an Sonntagen in Deutschland ein Beschäftigungsverbot, betont der 39-Jährige, der Partner einer Berliner Kanzlei ist, die sich auf Arbeitsrecht spezialisiert hat.
Arbeitsrecht liberalisiert
Allerdings gebe es inzwischen so viele Ausnahmen, dass die Regel zumindest infrage gestellt sei, meint Barrera Gonzales. Schon 1994 sei das Arbeitsrecht diesbezüglich weitestgehend liberalisiert worden. Ist sie vertraglich vereinbart, steht der Sonntagsarbeit fast nichts mehr im Weg: Theoretisch existiert ein Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers – praktisch müssen dafür eklatante Gewissenskonflikte nachgewiesen werden. Ihm sei kein solcher Fall bekannt, sagt der Anwalt.
Mustafa würde dagegen gerne sonntags arbeiten – darf es aber nicht. Sein Kiosk liegt in Berlin-Kreuzberg. „Ich möchte selbst bestimmen, wann ich meinen Späti öffne und schließe“, sagt der Ladeninhaber. Er habe keine Angestellten und schmeiße den Laden ganz allein. „Ich verstehe nicht, warum mir ein Staat, in dem Meinungsfreiheit herrscht, vorschreibt, wann ich arbeiten darf.“ Es gibt nicht wenige Einzelhändler wie Mustafa, für die der Sonntag ein wichtiger Umsatztag wäre: „Gerade wir Spätis könnten am Sonntag ein gutes Geschäft machen.“
Berlin hat wie alle anderen Bundesländer – ausgenommen Bayern – nach der Föderalismusreform ein eigenes Ladenschlussgesetz erlassen. Nur explizit genannte Verkaufsstellen wie Tankstellen oder Apotheken dürfen sonntags öffnen. Bäckereien dürfen seit November 1996 auch am Tag des Herrn frische Brötchen verkaufen. Dafür wurde das Arbeitszeitgesetz für Bäckereien geändert, das das Backen in der Nacht zum Sonntag verboten hatte.
Aber auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel, erklärt der Arbeitsrechtler: „Die Späti-Betreiber können bei den jeweiligen Bezirksämtern Ausnahmegenehmigungen beantragen. Die werden beispielsweise erteilt, wenn der Späti vorwiegend touristische Produkte vertreibt – Kaffee, Dosenravioli und Zahnpasta gehören allerdings nicht dazu.“ Ohnehin seien die Berliner Gerichte in den vergangenen Jahren eher strenger als milder mit den Spätis geworden, weiß Barrera Gonzales.
Arbeitsrecht fordert Erholung
Dies sei eine Auslegung des Sonntagsschutzes, die nicht mehr die Realität der Gesellschaft abbilde, fügt er hinzu. Der Grundsatz eines „Sonntagsarbeitsverbots“ sei in Zeiten von „remote work“ längst überholt. Das Arbeitsrecht sehe die Gewährung angemessener Erholungs- und Freizeit vor. Das sei auch völlig ausreichend. Nur Christen einen freien Sonntag zu garantieren, wäre allerdings rechtlich schwierig, erklärt Barrera Gonzales: Das verstieße gegen das Gleichbehandlungsgebot.
Deshalb bleibt es bis auf weiteres bei dem Grundsatz: Sonntagsarbeit ist verboten, außer der Arbeitgeber möchte das anders – aber nur, wenn er keinen Laden besitzt. Andere Länder sind in dieser Frage konsequenter, wieder andere deutlich flexibler. Selbst im überwiegend katholischen Nachbarland Polen sind am heiligen Sonntag die Läden geöffnet.