Von Beruf Provokateur

Bis heute ist Jean Ziegler davon überzeugt, Ziel eines Mordanschlags gewesen zu sein. 2001 hörte der Schweizer Soziologe auf der Fahrt in seine Heimatstadt Genf merkwürdige Geräusche seines Autos. Mechaniker fanden heraus: Der Motor war manipuliert worden. Wäre Ziegler weitergefahren, hätte er die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. „Das war versuchter Mord. Sehr, sehr beunruhigend.“

Jean Ziegler ist wohl einer der bekanntesten Schweizer – seine Enthüllungsbücher werden in Deutschland, den USA und selbst in Korea verkauft. Am Freitag (19. April) wird der Genfer Soziologe, Bestsellerautor, Globalisierungskritiker, Selbstdarsteller und frühere UN-Funktionär 90 Jahre alt.

In den vergangenen Jahren wurde es stiller um den Wissenschaftler, der immer höfliche Umgangsformen pflegt und elegante Kleidung liebt. Doch zu den großen Krisen der Gegenwart nimmt er weiter Stellung. So fordert er einen sofortigen Waffenstillstand im Nahost-Krieg, um den hungernden Palästinensern zu helfen. Israel wirft er „Staatsterror“ vor, er verurteilt aber auch scharf den Angriff der Hamas auf den jüdischen Staat. Bereits 2005 sorgte der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung für erbostes Kopfschütteln in Israel. Damals hatte Ziegler die israelische Besatzung des Gaza-Streifens mit einem „Konzentrationslager“ verglichen.

Seinen ersten großen Coup landete der frühere sozialdemokratische Abgeordnete 1976 mit seinem Buch „Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben“. Ziegler sezierte, wie Helvetiens Konzerne sich auf Kosten der Ärmsten im globalen Süden bereicherten. Viele seiner Landsleute reagierten empört – nicht über die Firmen, sondern über den Autor.

1990 legte er nach. In „Die Schweiz wäscht weißer“ geißelte er die eidgenössischen Banken als „Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens“. 1997 veröffentlichte Ziegler das Werk „Die Schweiz, das Gold und die Toten“. Sätze wie „Hitler war ein Traumkunde für unsere Banken“ brachten ihm endgültig den Ruf des Nestbeschmutzers ein. Als einer der Ersten räumte er mit der Legende von der unschuldigen Schweiz auf.

Neben seinem Heimatland widmet sich der Globalisierungskritiker immer wieder internationalen Konflikten und Machenschaften multinationaler Konzerne. Finanzmanager will der frühere Berater des UN-Menschenrechtsrates wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Gericht sehen: „Ein Nürnberger Tribunal soll die Gauner verurteilen.“

Auch Ziegler weiß: Solche Forderungen kommen nicht durch. Aber die Medien greifen sie auf. So eilte er noch im Rentenalter lange von Interview zu Interview, schrieb Bücher im Abstand von zwei bis drei Jahren. Eines seiner letzten Werke trug den aufrüttelnden Titel: „Wir lassen sie verhungern“. Darin schildert er seinen Kampf gegen die Lebensmittelnot in den Ländern des Südens. „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Das ist Massenmord.“ Es sind genau diese harten und zugespitzten Urteile, die Zieglers Anhänger so lieben.

Das Schweizer Establishment aber spart nicht mit Kritik. „Mit seinen Nachlässigkeiten macht Ziegler es seinen Gegnern fast schon zu einfach“, lästert die „Neue Zürcher Zeitung“. Andere beschuldigen ihn, er schiele vor allem auf die Auflage, rühre historische Halbwahrheiten und die Auswüchse seiner Fantasie gewieft zusammen.

Der Sohn eines Richters und Armeeoberst wurde am 19. April 1934 in Thun, Kanton Bern, geboren und nach seinem Vater auf den Namen Hans getauft. Nach dem Abitur kehrte er dem bürgerlich-protestantischen Elternhaus den Rücken und ging nach Paris. Inspiriert von nächtelangen Diskussionen in kommunistischen Zirkeln und Begegnungen mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre änderte Ziegler sein Leben.

Ziegler wechselte das Studienfach, die Sprache, die politische Couleur und sogar den Namen: von der Jurisprudenz zur Soziologie, vom Deutschen zum Französischen, vom Gemäßigten zum Sozialisten – und von Hans zu Jean.