Vom Müssen zur Muße
Müßiggang ist aller Laster Anfang: Wer das immer noch glaubt, hat noch nie ein Hirn im Leerlauf erlebt. Muße ist die Grundvoraussetzung für Kreativität. Ohne sie gäbe es heute keine Haftnotizzettel.
Es müssen paradiesische Zustände gewesen sein. Adam und Eva lebten in Harmonie – mit Gott, der Natur, mit sich selbst. Es gab keinen Schmerz. Keine Krankheit, keinen Tod. Weder Schuften noch Malochen. Nur: Muße.
Die Bibel sagt: Das war der Himmel auf Erden. Und das wäre er wohl geblieben, wenn nicht die Versuchung, das erste Übel der Schöpfung, dazwischengefunkt hätte. Die Folgen sind bekannt. Adam und Eva mussten raus aus dem Paradies. Plötzlich hatten sie selbst für sich zu sorgen. Aus der Muße wurde Müssen, Arbeit und Anstrengung.
Die Erzählung vom Garten Eden kann vieles erklären. Auch, wie den Menschen die Muße verloren ging. Und warum ihnen offenbar die Überzeugung in die DNA eingeschrieben wurde: Wer leben will, muss arbeiten – wer nicht schuftet, ist faul. Muße hat da kaum noch Platz. Was sich etwa zeigt in Redensarten wie „Müßiggang ist aller Laster Anfang“.
„Muße“ ist kein Synonym für „Nichtstun“
Dabei ist Muße alles andere als Nichtstun. Muße bedeutet nicht zwangsläufig: nichts tun. Sondern: nichts tun MÜSSEN. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Muße tut dem Menschen gut. Sie ist die Freiheit vom Müssen. Dabei passieren oft die erstaunlichsten Dinge. Entspannt unter der Dusche – und plötzlich ist da diese geniale Idee. Spazieren gehen, die Gedanken schweifen ins Nichts – mit einem Mal taucht die Lösung eines Problems auf, über das man gerade gar nicht nachgedacht hatte. Verträumter Blick in den Sonnenuntergang – und einfach so kommt eine Erkenntnis, die direkt aus dem Himmel herabgefallen sein könnte.
Was passiert da? Das Gehirn befindet sich im Leerlauf, wie der Hirnforscher Marcus Raichle vor gut 20 Jahren herausfand. Eine besondere Hirnregion, das „Default Network“, springt dann an wie ein Hilfsmotor; umso besser, je weniger man sich konzentriert. Deshalb das Empfinden, eine Erkenntnis entspringe dem Nichts.
Kreativität braucht Muße
Diesen Hilfsmotor kann man starten – indem man dem „Müssen“ entflieht und in den Zustand der Muße wechselt. Kreative Menschen wissen das. Für sie ist Muße alles andere als Langeweile. Auch die Bibel weiß das: Feiertagsruhe. Rückzug, Stille und Besinnung. Jesu Ruf: „Sorget nicht…“. All das sind Plädoyers, sich dem Diktat des Müssens zumindest eine Zeitlang zu entziehen.
Als Lehrbuch-Beispiel für Muße gilt der Fall von Arthur Fry. Gedankenverloren blättert der Amerikaner an einem Sonntag 1974 im Gesangbuch. Hin und wieder fallen Zettel heraus, mit denen er Lieder markiert hat. Plötzlich stutzt er: Wenn man diese Zettel mit einem schwachen Kleber bestreichen würde, der zwar hält, aber wieder ablösbar wäre… Arthur Fry hatte das Post-it erfunden. Hätte er angestrengt über eine Lösung für sein Gesangbuch-Problem nachgedacht – wer weiß, ob es heute den gelben Klebe-Notizzettel gäbe, der aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Muße ist ein Geschenk – als ob der Himmel ein kleines Stück vom Paradies zurückgäbe.