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Volkstrauertag: Aus der Zeit gefallen und doch hochaktuell

Lange galt der Volkstrauertag als Pflichtübung, heute gewinnt er dagegen an Bedeutung. Denn der Tag erinnert an alle Opfer von Krieg und Gewalt – und ruft zu Frieden auf.

Am Volkstrauertag gedenkt Deutschland der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft
Am Volkstrauertag gedenkt Deutschland der Toten von Krieg und Gewaltherrschaftepd-bild/Jens Schulze

Volkstrauertag – das klingt, als hätte man im Schrank den schweren Wollmantel des Großvaters gefunden. Muffig, riecht nach Mottenkugeln, korrekt, aber völlig aus der Mode. Kaum jemand erinnert sich, dass es ihn gibt. Doch nimmt man ihn in die Hand, erzählt er eine Geschichte, die unter die Haut geht.

Der Volkstrauertag ist ein staatlicher Gedenktag, in diesem Jahr am 16. November. Ursprünglich wurde er nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt, um der gefallenen Soldaten zu gedenken. Nach 1945 wandelte er sich zu einem Tag für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft weltweit. Seit 1952 wird er am zweitletzten Sonntag vor dem Advent begangen – ein stiller Feiertag, mit Kränzen, Reden, Gebeten. Viele empfinden ihn als fern, vielleicht, weil er nicht zum schnellen Gedenken taugt.

Volkstrauertag: Spiegel der Gegenwart

Doch dieser Tag ist mehr als nur historische Pflichtübung. Er ist ein Spiegel der Gegenwart. In einer Zeit, in der wieder Krieg in Europa herrscht, in der alte Gewissheiten bröckeln und neue Unsicherheiten wachsen, klingt die Mahnung des Volkstrauertags plötzlich vertraut. Seine Botschaft – „Versöhnung über den Gräbern, Arbeit für den Frieden“ – zielt nicht zurück, sondern
nach vorn.

Lange wurde kritisiert, der Tag habe zu sehr die eigenen Gefallenen betrauert und zu wenig an das Leid erinnert, das von Deutschland ausging. Über Jahrzehnte standen Soldaten im Mittelpunkt der Rituale, während zivile Opfer, die Toten anderer Nationen und die Opfer nationalsozialistischer Gewalt kaum Erwähnung fanden. Heute ist das Gedenken breiter gefasst: Es erinnert an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – an Kinder, Frauen und Männer aller Völker, an Soldaten beider Weltkriege, an die Ermordeten des Holocaust, an Menschen, die wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihres Widerstands verfolgt wurden, und an die Opfer von Terror und politischer Verfolgung in neueren Konflikten. Damit ist der Volkstrauertag auch eine Mahnung gegen jede Verherrlichung von Krieg – und eine Aufforderung, Verantwortung und Schuld nicht zu verdrängen.

Friedensdenkschrift: Pazifismus wird differenzierter gedacht

Auch die Kirche sucht nach neuen Worten für den Frieden. Gerade hat die Evangelische Kirche in Deutschland bei ihrer Synode in Dresden ihre neue Friedensdenkschrift vorgestellt, darin spricht sie von Friedensfähigkeit und Verantwortung zum Schutz vor Gewalt. Der einst selbstverständliche Pazifismus wird differenzierter gedacht: Gewaltverzicht bleibt Ziel, aber Verteidigungsbereitschaft wird als Teil ethischer Verantwortung verstanden.

Unser Autor Gerd-Matthias Hoeffchen
Unser Autor Gerd-Matthias HoeffchenUK

Gleichzeitig zeigt sich die Gesellschaft widersprüchlich. Viele befürworten eine starke Verteidigung, doch kaum jemand würde selbst zur Waffe greifen. Zwischen Wunsch nach Sicherheit und Sehnsucht nach Frieden bewegt sich das Land – und der Volkstrauertag bündelt diese Spannung.

Vielleicht lohnt es sich, den alten Mantel hervorzuholen, den Staub abzuklopfen und ihn neu zu betrachten. Er mag aus einer anderen Zeit stammen, doch erinnert er daran, wie zerbrechlich Frieden ist – und dass Erinnerung nicht in der Vergangenheit enden darf.