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Videospiel “Amerzone” ist ein Plädoyer für mehr Achtsamkeit

Der Gaming-Tipp des Monats: “Amerzone – The Explorer’s Legacy” ist eine “begehbare” Graphic Novel aus der Frühzeit der Videospiele. In der Kurzkritik geht es in die dystopische Welt von “Steel Seed”.

Mehr als ein Vierteljahrhundert liegt die Erstveröffentlichung von “Amerzone” zurück. Eine halbe Ewigkeit, ganz besonders in der Welt der Videospiele. Schon damals nahm das Spiel aus der Feder des belgischen Comic-Autors Benoît Sokal eine Sonderstellung ein. Denn den spielerischen Elementen kommt hier nur eine Nebenrolle zu, es geht vorrangig um Kontemplation und um die Geschichte.

Diese versetzt die Spieler in die Rolle eines namenlosen und – aufgrund der Ich-Perspektive – gesichtslosen Journalisten, der einen in einem Leuchtturm lebenden Professor namens Alexandre Valembois über das geheimnisvolle Inselreich Amerzone befragen will. Der Professor allerdings verstirbt kurz nach der Ankunft des Reporters, den er zuvor anfleht, selbst nach Amerzone zu reisen, um “Fehler” auszubügeln, die er 50 Jahre zuvor gemacht habe. Mehr sollte man vorerst gar nicht wissen, denn die Suche nach Informationen, die nach und nach die ganze Erzählung um ein bedrohtes Reich und dort lebende geheimnisvolle Vogelwesen enthüllen, macht den Reiz des Spiels aus.

“Amerzone – The Explorer’s Legacy” ist die überarbeitete Neufassung des 1999 erschienenen Klassikers. Den Entwicklern von Microids Paris ist das Kunststück gelungen, das Original ordentlich aufzufrischen, ohne dessen ursprünglichen Charme zu zerstören. Das Spielprinzip ist nach wie vor das eines “Point-and-Click-Adventures”. Das heißt, dass man in überwiegend statischen Umgebungen nach Hinweisen, nützlichen Gegenständen und Mechaniken suchen muss, die weitere Hinweise und Möglichkeiten offenlegen. Man kann sich nun allerdings an allen Schauplätzen frei umsehen, der Weg zwischen ihnen wird in Form von Animationen dargestellt.

Meist lässt sich relativ leicht zusammenreimen, was als Nächstes zu tun ist; gefordert wird dabei aber Beobachtungsgabe. Das gilt für die Rätsel ebenso wie für künstlerische Details. So wirft der Professor zu Beginn einen Schatten in Form eines Kranichs auf seinen Schreibtisch, nach seinem Ableben fliegt ein weißer Vogel am Fenster vorbei. An den detailreichen, modernen Grafikstandards angepassten Umgebungen mag man sich kaum sattsehen. Untermalt von stimmungsvollen Streicherklängen taucht man in eine zauberhafte Welt ein, in der, wie sich bald herausstellt, gar nicht so zauberhafte Dinge vor sich gehen.

Die Überarbeitung beseitigt manche Ungereimtheit in den Texten und den Rätseln. Die Möglichkeit, per Tastendruck alle interaktiven Elemente in der Umgebung anzeigen zu lassen, macht die traumhafte Reise leichter zugänglich, ohne aber den Spielspaß zu mindern. Gewöhnen muss man sich an den aus heutiger Sicht gemächlichen Spielrhythmus. Während aktuelle Videospiele oft auf Überwältigung setzen, kann man “Amerzone – The Explorer’s Legacy” als ein Plädoyer für mehr Achtsamkeit betrachten.

Im Sinne einer Rezeptionsästhetik geht es dabei um die Art, wie man sich zur visuellen Ordnung der Spielwelt ins Verhältnis setzt. Indem man seine Perspektive, ergänzt durch den Faktor Zeit, selbst bestimmt, wird man zum aktiven Mitgestalter. Der Effekt ist frappierend: Statt sich nach längerer Zeit am Monitor etwas benommen zu fühlen, scheint der Blick für die Wirklichkeit nach dem Genuss von Sokals Werk eher geschärft. Der 2021 verstorbene Künstler gehörte zu den ersten, die das Medium als Leinwand für interaktive Graphic Novels entdeckt haben. Es wäre zu wünschen, dass die Neuauflage von “Amerzone – The Explorer’s Legacy” diese Möglichkeit auch anderen Entwicklern wieder mehr ins Bewusstsein ruft.

Microids/Microids Paris

USK ab 12 Jahren; im Spiel werden “emotional belastende Themen wie beispielsweise Tod, Mobbing, Sucht eindrucksvoll geschildert”, stellt die USK fest. Darüber hinaus setzt es die Bereitschaft voraus, sich auf eine nicht zuletzt durch das darin vermittelte Gefühl von Einsamkeit teilweise bedrohlich wirkende Spielwelt einzulassen.

nein

Englisch mit einstellbaren Untertiteln u.a. in Deutsch

PlaySation 5, Xbox Series X/S, Windows PC

ca. 40 Euro

“Amerzone” war Benoît Sokals erste Videospielproduktion. Fast schon legendär ist das 2002 erschienene “Syberia”, das 2017 und 2022 zwei Fortsetzungen erfuhr. Auch “Paradise” (2006), “Sinking Island – Mord im Paradies” (2007) und “Der letzte König von Afrika” (2008) sind als Point-and-Click-Adventures inszenierte Ausflüge in exotische Welten. Sie sind für zahlreiche Plattformen erschienen, unter anderem für Taschenkonsolen und iOS.

Der Siegeszug der Maschinen über die Menschheit wurde schon unzählige Male heraufbeschworen. Durch Künstliche Intelligenz ist das Thema aktueller denn je. In der dystopischen Welt von “Steel Seed” ruhen die Hoffnungen auf der kybernetischen Lebensform Zoe und ihrem fliegenden Roboter-Sidekick Koby. Mit Hilfe dieser beiden treten Spieler gegen den genialen Wissenschaftler Doktor Archer an. Nicht überraschend beim Thema Roboter, bedient sich die Geschichte des italienischen Studios “Storm in a Teacup” diverser Motive aus der japanischen SciFi-Kultur. Statt stumpfer Gewalt stehen Themen wie Einsamkeit und Hoffnung im Fokus. Das soll nicht heißen, dass die Action in diesem visuell eindrucksvoll inszenierten Spektakel zu kurz kommt. Sehenswert sind auch die monströsen Maschinenbauten, die an den Filmklassiker “Metropolis” aus dem Jahr 2027 denken lassen.

Das Gameplay lebt vom Zusammenspiel von Zoe und der Drohne Koby. Je nach Situation schaltet man zwischen den beiden hin und her, Koby übernimmt oft technische Aufgaben und macht den Weg frei, während sich Zoe akrobatisch wie Lara Croft durch die futuristischen Kulissen hangelt. Hier sind strategisches Denken und schnelle Reaktionen gefragt. Natürlich darf auch gekämpft und geballert werden – erfreulicherweise ohne dass es allzu martialisch wird. Knapp 20 Stunden ist man alles in allem beschäftigt, dann hat das Duo wieder mal die Menschheit gerettet. Dass im Verlauf des recht linearen Geschehens mitunter ausgerechnet die Gegner-KI schwächelt, ist dabei nicht ganz ohne Ironie.

: “Steel Seed”, Storm in a Teacup/ESDigital Games, für PC, PS5, Xbox Series X/S, (Nintendo Switch geplant), ab 12 Jahren, ca. 45 Euro.