„Versprichst du mir, dass du mich nicht allein lässt?“
Mutter wartet im Heim. Warum Menschen mit Gedächtnislücken Kontakte und die Welt draußen besonders brauchen. Ein Erlebnisbericht.
Von Sibylle Sterzik
Sie fragt nie, wozu sie einen Maske tragen soll. Auch nicht, wenn eine in ihr Zimmer kommt. Keine geschockte Reaktion, wenn der Mund- und Nasenschutz mitten im Gesicht sitzt. Wie vieles andere nimmt sie es einfach hin hier im Heim in Corona-Unnormalität. Ein großes Stück Großmut, dass mit zunehmendem Alter größer wird.
Anneliese hat Alzheimer-Demenz. Die 87-Jähre lebt im Augenblick. Der zählt. Mehr speichert die Gedächtnisdatenbank nicht mehr. Zeitebenen rutschen ineinander wie Achterbahnen. Eben noch will sie los zur Schule oder zur Christenlehre, die sie geben muss, dann wieder wartet sie auf ihren Bruder, der gleich kommen wird. Vor über 40 Jahren haben wir ihn begraben.
Lasse ich sie im Heim zurück, wenn ich gehe, gefällt ihr das nicht. Sie will mit nach Hause kommen. Aber wo ist Zuhause? Auch wenn Schwestern und Pfleger sich rührend um Anneliese kümmern – das hier ist es nicht. Ihre Mutter wisse doch gar nicht Bescheid und werde sich Sorgen machen, wo sie bleibe, protestiert sie. Der Pfleger hört mit einem Ohr mit, winkt umsichtig von weitem rüber und ruft: „Ich rufe sie gleich an.“ Mutter nickt dankbar und lehnt sich beruhigt in ihrem Sessel im Wohnbereichs-Foyer zurück. Ich kann gehen.
Früher war sie Katechetin, schmiss den Pfarrhaushalt, bekochte Mann und vier Kinder, buddelte im großen Pfarrgarten, radelte munter über Land zur Christenlehre in die Außenstellen der Gemeinden. Heute ist der Wohnbereich im Seniorenzentrum ihre Rennstrecke. Alle kennen sie, mögen ihr herzliches Lachen und ihre glockenklare Singstimme. „Versprichst du mir, dass du mich nicht vergisst?“, fragt sie zum Abschied. Dann schaut sie mich fragend an und ich antworte: „Wie könnte ich!“ Wir lachen wir beide, obwohl ich weiß, sie wird am Mittwoch sagen, ich sei so lange nicht da gewesen.
Im Frühjahr, als das Heim wegen des ersten Lockdowns dicht machte, war deutlich zu spüren, wie ihre Mobilität und ihre Unbeschwertheit abnahmen, wie sie körperlich abbaute. Seitdem besuche ich sie öfter als sonst. Sie erkennt mich immer, auch wenn nur die Augen über dem Gesichts-Visier rausgucken.
Jeden Tag habe ich Angst, dass das Telefon klingelt und einer sagt, es sei etwas mit meiner Mutter. Oder dass Besuche nicht mehr erlaubt sind. Obwohl das ja zu ihrem Schutz wäre. Auch um das Heim macht Corona keinen Bogen. Menschliches Versagen? Niemand weiß, wo die Viren durchschlüpfen. Streckt Anneliese ihre Hand nach mir aus, soll ich sie abwehren? Und wie erklären? Berühren verboten? Ich nehme kurz ihre Hand in meine. Und schütze sie mit Handschuhen. Aber bin ich frei von Viren und ist es die künstliche Haut? Bei jedem Besuch zweifle ich. Nähe geben und Abstand halten – ein Tanz auf dem Grat.
Zum Ewigkeitssonntag hole ich sie zur Friedhofsandacht ab. Lange habe ich überlegt, ob ich das machen kann. Viele Menschen besuchen an diesem Tag die Gräber ihrer Lieben. Ich wage es, packe sie dick ein und stecke eine FFP2-Maske ein.
Die Tür zur Kapelle ist halb geöffnet. Ich schiebe den Rollstuhl davor. Die sechs oder sieben Stufen nach oben – unüberwindlich. Bis sich ein Mann quer vor die Eingangstür stellt, sieht sie die entzündeten Kerzen drinnen leuchten. Eine Frauenstimme erklingt, ihr Gesang dringt leise nach draußen. „Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr“, flüstert Anneliese auf einmal, als ich mich zu ihr herunterbeuge. Ich beiße mir auf die Lippen.
Später erklingt der Bläserchor, er hat sich zum Glück draußen aufgebaut. Choräle, Jazz, Getragenes. Mutter hat jetzt die Maske auf und hört still zu. Etwas dringt tief in sie ein, das ihre Seele berührt. „Ich finde es einen schönen Brauch, dass sie so etwas hier machen. Dass die Leute an so einem Tag hierher kommen“, sagt sie auf einmal leise, aber ganz klar. „Danke, dass ihr mich mit hier raus genommen habt.“ Als ich ihr die Maske abnehme, meint sie: „Jetzt kann ich wieder besser hören.“
Wir lächeln uns an. Ich weiß, dass sie etwas anderes meint. An Vaters Grab entzünden wir noch das große Grablicht. Sie sei lange nicht hier gewesen, sagt sie und entziffert aufmerksam den Namen auf dem Grabstein. „Das ist dein holder Ehegatte und unser Vater“, sage ich, als ich ihr fragendes Gesicht sehe.
Im Heim zurück, erfahre ich: Weihnachten wird es auf dem Wohnbereich keine große Tafel geben wie sonst. 2019 fiel das auch aus. Zu viele krank, zu wenig Personal. Diesmal Corona. Die Zahl der Besuchenden, die zur selben Zeit auf dem Wohnbereich sein dürfen, soll aber großzügig ausfallen. Rechtzeitig anmelden sei aber ratsam. Und wenn ich keinen Termin bekomme? Ich winke innerlich ab. Wann Weihnachten ist, weiß Mutter nicht so genau. Hauptsache, ich kann bei ihr sein. Darauf wartet sie immer. „Du sagst mir Namen und Worte, die ich schon ganz vergessen hatte. Dann weiß ich wieder, wie mein Bruder heißt und unsere Heimatstadt“, sagt sie. „Das wissen die anderen nicht.“ Ein Grund mehr herzukommen. Mein Gedächtnis holt ihr offenbar ein Stück ihres Lebens zurück.