Mit einer Gruppe örtlicher und internationaler Kirchenvertreter hat Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt und Diakonie-Katastrophenhilfe, im August Zentral- und Ost-Nigeria besucht. Ziel der Reise war es, durch Besuche in Vertriebenen-Camps der nigerianischen Bevölkerung Solidarität zu zeigen und die örtlichen Organisationen, die mit den Vertriebenen arbeiten, zu stärken und ihnen in Gesprächen Impulse für ihre weitere Arbeit zu geben. Obwohl die Terrororganisation Boko Haram in Teilen des Landes zurückgedrängt werden konnte, ist für unzählige Menschen an ein geordnetes Leben in Frieden und Sicherheit weiterhin nicht zu denken. Cornelia Füllkrug-Weitzel hat Eindrücke ihrer Reise aufgeschrieben und UK zur Verfügung gestellt.
Zum Beispiel Lawrence: Ich lernte ihn in Riyom im Nordosten Nigerias kennen. Wenn man ihn fragt, wovon er träumt, ist man erstaunt und erschüttert zugleich: Seine Zukunftswünsche sind auf ein Hühnerbein zusammengeschrumpft.
Lawrences Heimatdorf im Bundesstaat Borno wurde vor dreieinhalb Jahren von der Terrororganisation Boko Haram niedergebrannt. Der Junge konnte mit seiner Mutter und den Geschwistern fliehen. Sein Vater wurde ermordet. Seitdem ist er ein Flüchtling im eigenen Land, ein sogenannter intern Vertriebener – einer von etwa zwei Millionen in Nigeria. Und seitdem haben seine Mutter und seine Geschwister kein Hühnchen mehr auf dem Teller gehabt. Dabei ist Huhn in Nigeria Nationalgericht – quasi die Leib- und Magenspeise.
Wenn die Familie überhaupt etwas für ihre hungrigen Mägen bekommt, dann maximal einmal am Tag etwas Reis oder Maismehlbrei. Falls Lawrence‘ ältere Schwester so etwas organisieren kann. Aber oft haben sie nichts und das sieht man ihm an: zu klein, zu mager, zu krank.
Wie seine Schwester sich um das Essen kümmert, erzählt sie nicht. Aber fest steht: Außer ihren Körpern haben die Flüchtlinge wenig zu verkaufen, denn sie sind vollkommen mittellos. Nur eine sehr kleine lokale Nichtregierungsorganisation (NGO) kümmert sich um alternative Einkommensmöglichkeiten, indem sie den Frauen und Mädchen beibringt, wie man Haare flicht oder die Kopfbedeckungen der Frauen festlich steckt – kleine Dienstleistungen, für die man kein Investitionskapital braucht. Denn viel Geld hat die Organisation, die sich für die Vertriebenen engagiert, nicht.
Faktisch sind es aber fast nur solche lokalen NGOs und die Kirchen, die diesen Menschen, die überall verstreut in der Region leben, helfen. Mit wenigen Mitteln leisten sie großartige Arbeit und setzen sich bis an den Rand des eigenen Zusammenbruchs für die Vertriebenen ein.
Es gibt allerdings auch Organisationen, die sich nur als Helfer ausgeben. Sie entlocken gutgläubigen Müttern ihre Kinder – angeblich, um sie in Internate zu bringen und dort für ihre Zukunft zu sorgen. Einige Mütter aus Lawrence‘ Community haben ihnen ihre Kinder mitgegeben – und hören nie wieder von ihnen. Verbleib: unbekannt.
Überhaupt sind es immer wieder Frauen und Kinder, die besonders betroffen sind von der Verfolgung durch Boko Haram. Mit vielen von ihnen konnte ich bei meinem Besuch mit einer kirchlichen Delegation in Nigeria sprechen. Dabei merkt man ihnen an, dass sie schwersttraumatisiert sind. Besonders schlimm ist es für die, denen die Gewalt persönlich gilt, auf die es die Gewalttäter individuell abgesehen haben und die sie als Einzelne – getrennt von den Anderen – trifft. Wie zum Beispiel hunderttausende Dorfbewohner im Nordosten Nigerias. Seit 2009 und systematisch seit 2014/15 hat Boko Haram dort Dörfer überfallen und dann einerseits ganz gezielt einzelne Berufsgruppen – vor allem Lehrer und Lehrerinnen, Polizisten und Personal von Religionsgemeinschaften – sowie Mädchen und junge Frauen attackiert.
Die einen wurden vor den Augen ihrer Kinder und Frauen umgebracht, die anderen ebenfalls vor den Augen Angehöriger vergewaltigt oder verschleppt.
Viele von denen, die fliehen konnten, berichten, dass sie als Gruppe und Einzelne noch tagelang auf ihrer Flucht verfolgt wurden – bis die Mehrheit der Dorfbewohner tot war. Die Jungen und jungen Männer, die Boko Haram zwangsrekrutiert hat, wurden zusätzlich dadurch traumatisiert, dass sie später unter Umständen ihre eigenen Verwandten identifizieren und umbringen mussten – häufig unter Drogen.
Die tausenden Mädchen und jungen Frauen, die verschleppt wurden – es sind nicht allein die 250 Chibok-Mädchen, die dank geschickter Regierungspropaganda weltweite Bekanntheit erreicht haben –, wurden zwangsverheiratet und nach einer Weile weiterverkauft und in vielerlei Hinsicht als Sklavinnen gehalten.
Aber auch wer den Fängen von Boko Haram entfliehen kann, ist nicht wirklich gerettet. Zuhause werden die Betroffenen oftmals vom Dorf und von der Familie zurückgewiesen. Was folgt, ist die totale soziale Isolation.
Die Traumatisierung geht auch in den Flüchtlingslagern oder Gastkommunen oftmals weiter: Wer nicht weiß, was er seinen Kindern zu essen geben soll und vor der Wahl steht, sie verhungern zu lassen, wird leicht zur Beute für Angehörige der Sicherheitskräfte, die aus ihrer Macht, diese Mütter bei Lebensmittelverteilaktionen zu berücksichtigen oder zu übergehen, Kapital schlagen.
Und niemanden scheint das alles zu interessieren. Es gibt noch nicht einmal eine offizielle staatliche Liste mit den Namen der von Boko Haram getöteten und entführten Menschen. Lediglich Rebecca Dali, Pfarrerin der „Kirche der Geschwister“ (EYN) und Leiterin des „Centre for Caring, Empowerment and Peace Initiatives“, kümmert sich darum. 49 000 Namen von Boko Haram-Opfern hat sie bereits gesammelt und auf der Basis der Berichte der Vertriebenen dokumentiert – viele dicke grüne Bücher voll. Der Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen, der UNHCR, hat sie dafür geehrt – ansonsten beschäftigt sich keiner mit diesem Memento Mori.
Der Gouverneur des Bundesstaates Adawama in Nigeria, der auch auf der Besuchsliste unserer Delegation stand, lässt keine Zweifel aufkommen: Es sei an der Zeit, dass die intern Vertriebenen, die in Adawama Zuflucht gefunden haben, jetzt nach Hause gehen. Dabei sind noch längst nicht alle Landstriche im Nordosten Nigerias sicher. Das berichten die Flüchtlinge selbst und das bestätigt auch der UNHCR. Selbst, wenn die Leute von Boko Haram vertrieben sind – meist haben sie verbrannte Erde hinterlassen. Die Existenzgrundlagen unzähliger Familien sind vernichtet.
„In meinem Dorf herrscht Boko Haram nicht mehr, das stimmt“, sagt uns eine Frau, „aber es gibt auch mein Dorf nicht mehr – nur noch auf der Landkarte! Was da sicher wäre im Moment, ist unser Hungertod. Wir besitzen nichts mehr: unser Haus, unser Land, unser Vieh, unsere Vorräte – und nach drei Jahren Flucht auch unser letztes Geld – sind vernichtet.“
Von einer geordneten Rückführung, von Wiederaufbaumaßnahmen für Schulen und Krankenhäuser, von Wiederaufbauhilfen für die bettelarmen Familien, von Unterstützung für die Witwen, die mit ihrem Mann jede soziale und wirtschaftliche Basis verloren haben, ist keine Rede. Planungen dafür sind ebenso wenig erkennbar.
Und was wird nun aus Lawrence? Er wird wohl noch weiterhin mit 141 anderen vertriebenen Familien in einer ehemaligen Ladenzeile in Riyom leben und sich zehn Quadratmeter mit zehn anderen Kindern, seiner Mutter und vier weiteren Frauen teilen müssen. Eine Schule hat Lawrence seit seiner Flucht nicht mehr besucht und die Worte „Krankenhaus“ oder „Gesundheitsdienste“ sind Fremdworte in der Flüchtlingsunterkunft. Soziale Sicherheit existiert für diese Menschen nicht – sie sind Vergessene am Rand des Weltgeschehens.
Spendenkonto Diakonie Katastrophenhilfe: Evangelische Bank, IBAN DE68 5206 0410 0000 5025 02.
