Immer kümmern, allen helfen: Wer diesen Drang nicht ruhen lassen kann, überfordert sich schnell selbst. Ein Psychologe erklärt, was die innere Balance gefährdet und wie man sie wiederfindet – ganz ohne Egotrips.
Ein Schwein als Angeklagter vor Gericht? Was absurd klingt, geschah im Mittelalter tatsächlich. Nils Spitzer zitiert entsprechende Fälle, um einen wichtigen Unterschied deutlich zu machen: den zwischen Einfluss und Verantwortung. Denn auch wenn das Schwein einen Menschen getötet und damit massiven Einfluss genommen hat – so würde heute wohl niemand mehr ein Tier im juristischen oder moralischen Sinn zur Verantwortung ziehen.
Doch ihren eigenen Einfluss überschätzen Menschen gern, zeigt der Psychologe in seinem Buch “Krank vor Verantwortung?”: “Man denkt, eine einzelne Handlung führe zu einem Ergebnis, für das man sich dann verantworten müsse. So eng sind die Verbindungen aber oftmals nicht.” Besonders betrifft dies Menschen, die zu sogenannter Überverantwortung neigen. Gemeint ist eine innere Haltung, ein regelrechter Drang, Verantwortung zu übernehmen. Doch Verantwortung hat laut Spitzer ihre Grenzen – zumal in komplexen Zusammenhängen.
Vor den Ferien stapeln sich die Aufgaben. Oder: Ein Elternteil wird krank, während man mitten im Umzug steckt. Solche “Verantwortungsstaus” kennen wohl alle Menschen – und so belastend sie sein können, sie haben nichts mit Überverantwortung zu tun. Wer sich jedoch ständig zu viel auflädt, trotz des Gefühls “ich kann nicht mehr” – dem gibt der Autor konkrete Übungen für mehr Eigeninteresse und – ja! – Gleichgültigkeit an die Hand.
Meist bezieht sich Überverantwortung auf das “eigene psychische Territorium”, erklärt Spitzer: Familie, Freunde, Wohnung, Arbeitsplatz. Studien zeigten indes, dass dieses Territorium dehnbar ist. So seien von Überverantwortung betroffene Menschen im Urlaub zunächst erleichtert: “Eine Ferienwohnung ist nicht ihr Bereich – am Anfang. Wenn sie dann aber eine Woche da sind oder zwei, schleichen sich überverantwortliche Handlungen ein.”
Beispiele gibt es viele: die junge Frau, die eine Party ihres Partners plant und vorbereitet – obwohl hauptsächlich seine Freunde eingeladen sind. Die Mutter, die kaum noch an etwas anderes denken kann als an die Sorge, jemand könnte auf der Treppe stürzen – obwohl die anderen Familienmitglieder dort achtlos Klamotten liegen lassen. Oder der Student, dessen Befürchtung, jemand könnte sich von ihm belästigt fühlen, jeglichen sozialen Austausch hemmt.
“Entscheidend ist, wie belastend jemand diese Situationen erlebt”, erklärt Spitzer. Wer Verantwortung abgeben wolle, müsse wiederum damit leben können, dass andere Menschen eine Aufgabe vielleicht anders lösten. “Es ist eine Falle, auf dem Anspruch sitzen zu bleiben: Es muss auf meine Art geschehen.”
Doch wie entsteht Überverantwortung? Filmhelden könnten mit einem einzigen Schwerthieb, einem Zauberspruch oder durch unerschütterlichen Kampfgeist die Welt retten, erklärt Spitzer: “Wir sind ständig umgeben von Figuren, die uns anleiten, die eigene Handlungsfähigkeit zu überschätzen.” Dagegen sei es eine Übung in Demut, sich klarzumachen, wie viele Menschen etwa an dem Brot beteiligt waren, das man soeben gekauft habe, oder dazu beitrügen, dass man mit dem Bus zur Arbeit fahren könne.
Eine Übung, die womöglich auch ein Gefühl von Verbundenheit stärken kann. Denn nachdem sich bei den Menschen der Eindruck festgesetzt habe, sie könnten per Smartphone spielerisch die Welt beherrschen, hätten sie mit der Corona-Pandemie eine Ohnmachtserfahrung gemacht, sagte der Psychologe Stephan Grünewald kürzlich der Zeitschrift “Psychologie Heute”: Das Virus habe daran erinnert, dass Menschen sterblich seien. Früher, ergänzt Spitzer, habe man sich in solchen Momenten an Gott gewandt – in einer säkularisierten Welt laste der Verantwortungsdruck, das Ganze doch zum Guten zu wenden, allein auf dem Menschen.
Verantwortung zu übernehmen, sei durchaus etwas Gutes, betont Spitzer. Er rät weder zu Egotrips noch dazu, Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen. Wer sich jedoch selbst vergesse, dem drohten Frust und im schlimmsten Fall psychische oder körperliche Erkrankungen. Also: mehr beobachten statt bewerten – auch und vor allem sich selbst.