Vaterfigur des liberalen Judentums

Im Alter von 94 Jahren ist der Rabbiner Henry G. Brandt gestorben. Er war einer der prägendsten Vertreter des liberalen Judentums, der beharrlich den Kontakt mit den Kirchen suchte. In Niedersachsen war er zwölf Jahre lang Landesrabbiner.

Rabbiner Henry G. Brandt im November 2013
Rabbiner Henry G. Brandt im November 2013Andreas Schoelzel / epd

München / Augsburg. Einer der bekanntesten Rabbiner in Deutschland und NS-Zeitzeugen in Deutschland ist tot: Henry G. Brandt ist im Alter von 94 Jahren gestorben, wie der Zentralrat der Juden in Deutschland mitteilt. Brandt zählte zu den prägenden Persönlichkeiten im liberalen Judentum sowie im jüdisch-christlichen Dialog in Deutschland. Von 1983 bis 1995 war er Landesrabbiner für Niedersachsen mit Sitz in Hannover. Später wechselte er nach Nordrhein-Westfalen und Bayern.

Zentralrats-Präsident Josef Schuster sagte, Brandt habe über Jahrzehnte „mit Klugheit und einem großen Wissen“ den jüdisch-christlichen Dialog geführt. Dabei sei es ihm gelungen, auch in schwierigen Phasen den Gesprächsfaden nie abreißen zu lassen. „Beharrlich und ohne den eigenen Standpunkt zu verleugnen, hat er immer wieder Brücken zu den Kirchen geschlagen.“ Er sei im besten Sinne „Lehrer und Ratgeber“ gewesen.

Tradition in alles Neue

Die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland erklärte, sie trauere um die Vaterfigur des liberalen Judentums in Deutschland. Ihr Ehrenvorsitzender Brandt habe es über Jahrzehnte verstanden, Reformen in die jüdische Tradition und Tradition in alles Neue zu geben, heißt es in einer Mitteilung. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, „die Tora zum Glänzen zu bringen“. Brandt war von 2004 bis 2019 Vorsitzender der Konferenz. Von 1985 bis 2016 war er zudem Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Eindringlichste Stimme

Die frühere Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch sagte: „Mit ihm verlieren Deutschland und die jüdisch-deutsche Gemeinschaft eines ihrer wichtigsten Gesichter und eine ihrer eindringlichsten Stimmen.“ Wie kaum ein Zweiter habe Rabbiner Brandt dazu beigetragen, nach der völligen Zerstörung das jüdische Leben in seinem Geburtsland Deutschland wieder aufzubauen, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.

Brandt sei einer der letzten Zeitzeugen der NS-Zeit in München gewesen, sagte Knobloch weiter. „Sein Tod ist daher ein besonderer Verlust.“ Er habe zu den wenigen gezählt, die noch die alte Münchner Hauptsynagoge und den Horror des Jahres 1938 mit der Reichspogromnacht mit eigenen Augen erlebt hätten.

Was die Kirchen aus Niedersachsen sagen

Auch die evangelischen Kirchen in Niedersachsen trauern um den ehemaligen jüdischen Landesrabbiner Henry G. Brandt. Die Kirchen hätten Brandt viel zu verdanken, sagte am Mittwoch der Oldenburger Bischof Thomas Adomeit als Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen. „Er hat seinen Anteil daran, dass sich das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Judentum in den vergangenen vier Jahrzehnten grundlegend gewandelt hat.“

Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister sagte, er habe Brandt als einen Menschen erlebt, „der sehr sensibel gewesen ist für das Gemeinsame der Religionen, aber auch genauso für das Verschiedene“. Die hannoversche Landeskirche sei ihm zu großem Dank verpflichtet. „Ganz persönlich werde ich mich an ihn als einen klugen und warmherzigen Gesprächspartner erinnern.“

Nach Israel geflohen

Henry G. Brandt wurde 1927 in München als Heinz Georg Brandt geboren. 1939 floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten über Großbritannien nach Israel. Brandt diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg und absolvierte später eine Rabbinerausbildung in England.

In den 1980er Jahren kehrte er nach Deutschland zurück und betreute mehrere jüdische Gemeinden, vor allem in Niedersachsen. Von 1995 bis 2005 war er Landesrabbiner von Westfalen-Lippe. Danach kam er wieder nach Bayern: als Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg, der er bis 2019 war.

Für Lebenswerk ausgezeichnet

Für sein Lebenswerk im interreligiösen Dialog und „insbesondere für seinen großherzigen und unermüdlichen Einsatz für die Verständigung zwischen Juden und Christen“ zeichnete die Fokolar-Bewegung Deutschland Brandt vor fünf Jahren mit dem Klaus-Hemmerle-Preis aus. Bei einer interreligiösen Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz erinnerte der Rabbiner gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, 2018 an die Opfer des Holocausts. Brandt war verheiratet und hatte vier Kinder sowie sieben Enkel. (epd)