Unternehmensziel Gemeinwohl

Ein anderer Kapitalismus ist machbar, sagt der Nobelpreisträger Muhammad Yunus. Erfolge dürften nicht nur in Rendite, sondern müssten in gesellschaftlicher Wirkung gemessen werden

Der Weltmeister heißt Uganda. Jedenfalls in Sachen Unternehmergeist. Nach Angaben der Organisation „Global Entrepeneurship Monitor“ von 2015 haben 28 Prozent der Einwohner des vergleichsweise kleinen ostafrikanischen Landes in den vorausgegangenen dreieinhalb Jahren ein Unternehmen gegründet. Mehr als sechsmal so viele wie in den USA.
Die meisten dieser Männer und Frauen brauchten dafür weder ein Universitätsdiplom noch eine praktische Berufsausbildung. Nötig waren auch keine Millionenbeträge für Investitionsgüter. Was zumeist reichte, war ein wenig Geld für eine Ziege, eine Nähmaschine oder ein paar Bienenkörbe. Und dazu: Einsatzbereitschaft und Kreativität.
Dass sich mit solchen einfachen Mitteln für Millionen von Menschen Wege aus Armut und Perspektivlosigkeit eröffnen lassen, ist das Credo von Muhammad Yunus. Der Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesh und Begründer der Grameen Bank gilt als Vater der Mikrokredite. Seine Idee, die die Grameen Bank praktisch umsetzt, ist so einfach wie bestechend: Menschen Geld zu leihen, denen keine klassische, gewinn-orientierte Bank etwas geben würde. Kleine Beträge, die Männer und Frauen darin unterstützen, sich eine Existenz aufzubauen. Für diese Bemühungen um eine „wirtschaftliche und soziale Entwicklung von unten“ erhielt Yunus 2006 den Friedensnobelpreis.

Die Existenz in die eigenen Hände nehmen

In vielen Veröffentlichungen hat er sich dazu geäußert, wie die Wirtschaft im Kleinen wie im Großen gerechter gestaltet werden kann. Jetzt liegt sein neuestes Buch vor: „Ein anderer Kapitalismus ist möglich“. Weit entfernt von einer antikapitalistischen Kampfschrift ist es ein Ideenbuch, das anhand erprobter Beispiele zeigt, wie Menschen zu ihren eigenen Arbeitgebern werden können und wie sie damit nicht nur sich selbst helfen, sondern im Idealfall dem ganzen Gemeinwesen, in dem sie leben. „Social Business“ (deutsch: soziales Geschäft oder Geschäftsleben) heißt das Zauberwort. Es soll Armut beseitigen, Arbeitslosigkeit abschaffen und Nachhaltigkeit fördern.
Wie bei den Bienenzüchtern in Uganda. „Golden Bees“ (Goldbienen) heißt etwa eine Firma in Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Sie verfolgt das Ziel, Tausenden von Kleinbauern die Bienenzucht wegen der wachsenden  Nachfrage als erfolgversprechendes landwirtschaftliches Arbeitsfeld nahezubringen. Golden Bees verkauft die Imkerausrüstung und bildet die Bauern in Bienenzucht aus. Außerdem sammelt es die Bienenprodukte ein, um sie weiterzuverarbeiten und national und international zu vermarkten. Die Gewinne fließen dann nicht etwa in die privaten Taschen irgendeines Chefs bei Golden Bees, sondern zurück in die Expansion des Unternehmens, sodass es seine Leistungen noch mehr Bauern zugänglich machen. kann. Mitte 2016, so Yunus, habe das Netzwerk der Firma aus mehr als 1200 Bauern bestanden, Hunderte weitere warteten darauf, sich beteiligen zu können, um sich selbst und ihre Familien mit (weitgehend) eigener Kraft aus der Armut befreien zu können.
Nach Yunus‘ Überzeugung sind fast alle Menschen dazu fähig, eine rentable Arbeit auszuüben, die einen Mehrwert für die Gesellschaft schafft und ihnen und ihren Familien den Unterhalt sichert. Das gelte besonders, wenn auf ihnen nicht der Druck laste, für einen Konzern ständig wachsende Gewinne erwirtschaften zu müssen.
Modelle wie das in Uganda sind inzwischen in der Entwicklungsarbeit anerkannt und weit verbreitet. Auch der faire Handel funktioniert auf ähnliche Weise: Kleinbäuerliche Produzenten schließen sich zusammen, um ihre Erzeugnisse zu besseren Konditionen vermarkten zu können. Aber funktioniert die Idee auch in hochentwickelten Industrienationen, um dort Armut und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?
Muhammad Yunus sagt ja. Zum Beispiel in Frankreich. Dort gibt es, verbunden durch das vom Autobauer Renault gegründete Social Business-Unternehmen „Mobiliz“, ein Netz von „Solidaritätswerkstätten“, die in ländlichen Regionen ärmeren (auch älteren) Menschen eine preiswerte Autoreparatur anbieten, um deren Mobilität zu erhalten. Auch ein Carsharing-Service sei im Aufbau. Andere Social Business-Projekte wollen Yunus zufolge Notunterkünfte für Obdachlose einrichten oder  Bankleistungen auch für arme Menschen zugänglich machen.
Ob nun in Entwicklungs- oder in Industrieländern: All diese Initiativen sind, so Yunus, nötig, weil der weltweit praktizierte Kapitalismus auf ein einziges Ziel ausgerichet sei: auf das egoistische Streben nach individuellem Gewinn. Der „real existierende Kapitalismus“ schade mehr als er nutze, auch deshalb, weil ihm, unabhängig vom Verhalten einzelner Unternehmer, grundsätzlich der Trend zur Reichtumskonzentration und zur Förderung von Ungleichheit innewohne. Geld zieht Geld an. Im Umkehrschluss heißt das: Wer kein Geld hat, kriegt auch keins.
Gleichzeitig aber stellt Yunus auch einen positiven Trend fest: nämlich dass sich Millionen von Menschen in aller Welt für die Beseitigung von Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung einsetzen. Wenn man diese sozialen und ökologischen Ziele im Social Business als unternehmerische Ziele definiere, könnten viele Probleme gelöst werden, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Denn der Social Business funktioniere genau dort, wo die Rendite einer Investition zwar gegen Null gehe, ihre gesellschaftliche Wirkung aber sehr hoch sei.
Positiver Nebeneffekt: In einem solchen System, das sich finanziell selbst trägt, werden Menschen nicht zu Almosenempfängern degradiert. Viele, die mit einem Mikrokredit ihre eigene Existenz aufbauen, erleben – vermutlich oft zum ersten Mal in ihrem Leben –, dass man ihnen mit Vertrauen begegnet. Und dieses Vertrauen wird belohnt: Die Rückzahlungsquoten liegen bei mehr als 90 Prozent, bei der Grameen-Bank sind es Yunus zufolge sogar 99 Prozent.
Überhaupt: Würde, Vertrauen, Mitmenschlichkeit. Yunus ist überzeugt, dass solche Werte auf der Welt genauso vorhanden sind wie das den Kapitalismus prägende egoistische  Gewinnstreben. Sogar in der Welt der Unternehmen spielten Selbstlosigkeit und Vertrauen eine bedeutende Rolle. Leider werde das jedoch bei der Berechnung der Wirtschaftskraft in Gestalt des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht berücksichtigt. Das bedeute: Was Menschen zutiefst wertschätzen (obwohl dabei kein Geld fließt), werde behandelt, als ob es keinen Wert hätte.

„Großartiges Werkzeug zur Lösung der Krise“

Das soll und muss sich ändern, meint Yunus. Es gebe gar keine Alternative dazu, den Kapitalismus zu reformieren und Unternehmensformen zu fördern, in der nicht die Rendite an erster Stelle steht. Denn in dem Maße, wie die ungleiche Verteilung von Reichtum und Macht sich vergrößere, vertieften sich auch Misstrauen, Verbitterung und Wut, so dass die Gefahr von sozialen Unruhen und bewaffneten Konflikten zwischen den Ländern wachse.
In seinen Überlegungen und praktischen Bemühungen setzt Muhammad Yunus vor allem auf den Ideenreichtum der Menschen: „Das Social Business ist aber nicht einfach nur ein großartiges Werkzeug zur Lösung der Krise, in der die Menschheit steckt. Es ist auch ein wundervoller Ausdruck der menschlichen Kreativität – vielleicht die höchste Form von Kreativität, zu der Menschen fähig sind.“