Unter der Samenwolke

Ein meterlanger ovaler Teppich aus Löwenzahn-Pusteblumen liegt auf dem Boden und von der Decke schwebt eine Wolke aus Distelsamen. Dazwischen tummeln sich filigrane Miniaturskulpturen aus Kletten, Gräsern oder Pferdehaar. Christiane Löhrs Skulpturen überraschen durch ihr ungewöhnliches Material. Die Bildhauerin verwendet für ihre Arbeiten ausschließlich Stoffe aus der Natur: Samen, Gräser, Pflanzenstängel, Baumblüten oder Tierhaare. Daraus konstruiert sie ihre organisch-abstrakte Werke, die an Architekturen, Landschaften oder Gefäße erinnern.

Unter dem Titel „Christiane Löhr. Symmetrien des Sachten“ zeigt das Arp Museum Bahnhof Rolandseck seit Sonntag bis zum 21. Januar einen Überblick über das Werk der 1965 geborenen Künstlerin. Präsentiert werden rund 80 Skulpturen sowie Zeichnungen von den 90er Jahren bis in die Gegenwart.

Zu sehen ist zum Beispiel ein kleines, aus Efeusamen aufgetürmtes Gebirge. Aus Kletten schafft die Künstlerin fragile Arbeiten im Miniaturformat wie etwa ein Objekt in Wabenstruktur oder ein vasenartiges Gefäß. Teilweise verwebt sie Kletten mit Hunde- oder Katzenhaaren zu luftigen kleinen Kissen oder Lappen. Sie scheinen an den hohen, weißen Wänden des Richard-Meier-Baus geradezu zu schweben. Aus Gräsern formt Christiane Löhr kleine Kuppeln, die zum Teil an Kreuzgewölbe romanischer Kirchen erinnern. Pflanzenstängel sind zu pyramidenartigen Stufenformen angeordnet. Und aus Pferdeschweifhaaren hat die Künstlerin einen winzigen Kelch sowie kleine geometrische Objekte geflochten, die wolkenförmig an der Wand angeordnet sind.

Neben den kleinen Arbeiten schuf die Künstlerin speziell für die Ausstellung im Arp Museum drei große Werke: Den Teppich aus Löwenzahn-Pusteblumen und die Distelsamenwolke sowie eine filigrane Reuse aus Pferdeschweifhaar, die quer durch das Kabinett der Ausstellungsetage gespannt ist.

Zu ihrem ungewöhnlichen Werkstoff fand Christiane Löhr durch ihr Hobby. Als Kunst-Studentin besaß sie ein eigenes Pferd. „In der Zeit, die ich mit meinem Pferd verbracht habe, habe ich intensiv Landschaft, Natur und Pflanzen wahrgenommen,“ sagt Löhr. Oft musste sie Kletten aus der Mähne des Tiers entfernen. „Und da habe ich spielerisch angefangen, diese Materialien in mein künstlerisches Ausprobieren hineinzunehmen.“ Zugleich entdeckte sie die Positionen der Arte Povera für sich, eine Strömung, die einfache Materialien aus dem Alltag und der Natur in die Kunst einbrachte.

Christiane Löhr begann schon während ihres Studiums beim Land-Art-Mitbegründer Jannis Kounellis an der Düsseldorfer Kunstakademie, die Eigenschaften von Pflanzenteilen und Tierhaaren als Werkstoff zu erforschen. Ihre Arbeiten entstehen ganz ohne Hilfsmittel. Sie halten ohne Klebstoff, Draht oder Fixierer. Die Form der Skulpturen orientiere sich an den Eigenschaften des Materials, erklärt Löhr. „Und dadurch gibt es Arbeiten, die gestapelt sind, die hängen oder sich durch den Raum spannen.“

Die kleinen Skulpturen forderten Sensibilität von Besucherinnen und Besuchern, stellt Kuratorin Jutta Mattern fest. „Man muss sich darauf einlassen und genau hinschauen. In einer lauten Welt ist das eher selten.“ Die auf Wandvorsprüngen oder flachen Podesten präsentierten filigranen Arbeiten laden tatsächlich dazu ein, sich zu bücken oder sehr nah heranzutreten. Durch diese Anziehungskraft entfalteten sie ihre besondere Wirkung, beobachtet Mattern. Es sei stets eine Herausforderung, mit ihren kleinen Arbeiten aus verletzlichem Material in großen Räumen zu bestehen, bekennt Löhr. Doch sie habe festgestellt, dass ihre Werke trotzdem intensiv wahrgenommen würden. So etwa bei der Biennale in Venedig, wo sie 2001 mit einer nur zwei Hände hohen Arbeit aus Efeusamen inmitten großer Skulpturen vertreten war.

Christiane Löhr, die heute in der Toskana und in Köln lebt, arbeitet zwar mit Natur-Materialien. Themen, die derzeit im Kunstbetrieb sehr präsent sind, wie ökologische Bewusstseinsbildung oder das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, seien für ihre Arbeit aber nicht relevant, erklärt die Künstlerin. Sie arbeite mit der Natur als Werkstoff, aber nicht über die Natur. „Es geht mir um eine geistige Dimension, die sich vom Physischen löst. Oder umgekehrt gesagt: Der Gedanke wird materialisiert.“

Ergänzt werden Löhrs bildhauerische Arbeiten durch teils großformatige Zeichnungen aus schwarzer Tusche, Grafit und Ölkreide. Sie entstünden parallel zu den Skulpturen, seien aber eigenständige Arbeiten, erklärt Löhr. Einige bestehen aus feinen Linien, die an Gräser oder Geäder erinnern. Andere zeigen dichte, organische Strukturen oder opake Flächen aus verlaufener Tusche.