Unrecht – „Zu lange beschwiegen“
Landeskirche rehabilitiert NS-verfolgten homosexuellen Pfarrer Friedrich Klein
Als erste Landeskirche der EKD rehabilitierte die EKBO am 1. September einen NS-verfolgten homosexuellen Pfarrer in der Immanuelkirche in Berlin-Prenzlauer Berg, den die Kirche aus dem Dienst entlassen hatte. In dem Gedenkgottesdienst verlas Bischof Christian Stäblein eine Erklärung der Kirchenleitung. Im Folgenden dokumentieren wir Passagen aus der Predigt des Bischofs zu Jesaja 32, 15b-18 und die Erklärung der Kirchenleitung.
Von Christian Stäblein
Am 1. September vor 81 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht Polen, vor 81 Jahren begann Nazi-Deutschland seinen verbrecherischen Krieg, mit dem es am Ende Europa in Brand und Verwüstung brachte. Der 1. September ist ein Tag der Erinnerung an diese Untaten. In den Folgen dieses Tages kam schließlich auch Friedrich Heinrich Klein ums Leben, wir haben es gehört. Wegen damals sogenannter widernatürlicher Unzucht verurteilt, dann die Gefängnisstrafe in Teilen erlassen, um sich dem, wieder muss ich sagen: dem sogenannten Bewährungsbataillon anschließen zu können, wurde Friedrich Klein seit dem 1. August 1944 vermisst.
Die Strafe auf Bewährung war also sein Todesurteil. Man muss es so deutlich aussprechen, es ist nicht leicht, sich nicht immer wieder in der Sprache der Nazis zu verstricken, sogenannt, sogenannt will man, will ich unablässig davor setzen. Es ist eine Sprache des Unrechts. Der 1. September erinnert an diese Untaten und an dieses Unrecht.
Denn am 1. September 1935 – also vor 85 Jahren – hatten die Nationalsozialisten den sogenannten Homosexuellen-Paragraphen, § 175, verschärft, die gleichgeschlechtliche Liebe, schon bis dahin verboten, nun nicht mehr mit sechs Monaten, sondern mit bis zu fünf Jahren Gefängnis belegt. Die Tat des Unrechts ist Unrecht, das zu Unrecht anstiftet und Unrecht zur Untat werden lässt.
Nein, die wohltuenden Worte des Propheten Jesaja und das, warum wir heute hier sind, kommen so gar nicht überein. Denn die, die Jesajas Worten hätten folgen sollen, die Kirche, sie hat das nicht getan. Vor 85 Jahren nicht, als der § 175 verschärft wurde, als sie hätten widersprechen müssen, da waren wir Protestanten ohne Protest. 1943 schließlich hat die Kirchenleitung Unrecht durch Unrecht fortgesetzt, hat die Verurteilung Kleins vor dem Reichskriegsgericht durch Entlassung aus dem kirchlichen Dienst und Entzug der geistlichen Rechte, der Rechte aus der Ordination mit weiterem Unrecht versehen. Das zu erinnern, zu erklären, uns dazu zu erklären sind wir heute hier.
Warum damals Unrecht für Recht gehalten wurde und wie es kam, dass man die Werke des Unrechts nicht erkannte, dafür mag es viele Erklärungen geben, aber nicht einen Grund, der diesen Namen verdient. (…) Nein, sorglose Ruhe, die uns der Prophet Jesaja für das Ende der Zeit verheißt, kann es nicht geben, nicht, solange Unrecht nicht benannt ist. Es ist schweres Unrecht, auch im Namen der Kirche. Die Kirchenleitung heute hat das anerkannt, sie hat das, was sie für nichtig erklären kann als Entlassungsbescheid, für nichtig erklärt (unten stehende Erklärung).
Dass wir uns nicht missverstehen: Damit ist nicht irgendwas einfach wieder gut, die Rehabilitierung kommt zu spät. Ich sage es ganz vorsichtig: Es ist ein Schritt auf dem Weg zur Umkehr. Ich bin dankbar, dass die Kirchenleitung diesen Schritt jetzt geht, einstimmig. Er ist auch heute für viele Menschen, mit denen wir leben, keine Selbstverständlichkeit. Das zeigt das Interesse der Medien an diesem Gottesdienst.
(…) Heute stellen wir fest: Viel zu lange haben wir uns selbst beruhigt, haben das alles so hingenommen, haben es verdrängt, haben das schreiende Unrecht mit verantwortet, mit beschwiegen. Denn klar ist ja: Es waren nicht allein die Nazis, die gleichgeschlechtliche Liebe diskriminiert, ja schließlich bis zur Ermordung verfolgt haben. Der Schrecken der Geschichte ist lang. Und noch lange hat sich das fortgesetzt nach 1945, nicht in der Brutalität der Nationalsozialisten, aber doch noch Jahrzehnte per Gesetz, und auch nach Streichung der diskriminierenden Paragraphen noch Jahrzehnte durch Versagung gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung, durch ständige Diskriminierung in großen und kleinen Dingen, in Worten und Taten, öffentlich und hinter vorgehaltener Hand. Wir dürfen uns nicht beruhigen, solange das noch wirksam ist. Es gilt aufzuarbeiten, es gilt in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir, die Kirche, haben als Institution an diesem Punkt versagt, wir sind Menschen Anerkennung, Recht, ja Liebe schuldig geblieben, wir haben uns schuldig gemacht. Nein, keine falsche Beruhigung, bis das in aller Klarheit gesagt ist. Für viele kommt es zu spät, dass wir das sagen. Auch das müssen wir in aller Klar-heit sehen und aussprechen.
Liebe Gemeinde, jetzt muss, jetzt will ich vorsichtig sein mit dem „Wir“, ein falsches Wir kann ja auch allzu schnell beruhigen, so als gäbe es eine Art „wir alle“. Nein, „wir alle“ stimmt meistens nicht, ist mehr eine Beruhigungsformel für Täter. Ich danke ausdrücklich den Betroffenen, die heute hier sind, die die Aufarbeitung in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben haben, die trotz allen Unrechts das Gespräch nicht abgebrochen und den Stab nicht gebrochen haben. Viele von Ihnen sind heute hier. Danke, danke auch, dass Sie sich nicht beschwichtigen und vertrösten lassen haben – keine falsche Beruhigung, Jesaja will ehrlichen, gerechten Frieden und der steht noch aus.
Als Vertreter der Institution heute steht es mir gar nicht zu, ihn allzu viel im Mund zu führen. Mein Blick, das will ich deutlich sagen, mein Blick heute ist weder irgendeine apologetische Erklärung, irgendein „aber verstehen Sie doch auch“, nein. Und ebenso wenig ist mein Ansinnen eine leicht dahin gesagte, uns, mich entlastende Verurteilung derer, die vor uns waren, in ihre Geschicke verstrickt. Das wäre billig und wohlfeil. Mein Blick ist ausschließlich dieser eine: aussprechen und anerkennen, wo wir als Institution versagt haben. Aussprechen, anerkennen, bitten, dass es gehört werden möge. Dass wir einen anderen Weg suchen, lange schon.
Liebe Gemeinde, (…) am 1. September mit der Sprache der hebräischen Bibel reden, das erinnert, wie sehr wir als Kirche versagt haben vor acht Jahrzehnten. Dass wir überhaupt noch in der Sprache der jüdischen Geschwister reden und bitten dürfen – um Recht, Zedaka, um Frieden, Schalom, dass wir so noch reden nach all dem, was im deutschen Namen den Geliebten Gottes angetan wurde, das ist unverdient und ein Wunder. Frieden mit uns selbst machen wir nicht selbst, wir vertrauen darauf, dass Gott ihn macht, immer wieder, seinen Schalom.
Immer wieder und am Ende der Zeit. Das ist das, was aus Jesajas Worten spricht. Er setzt uns auf den Weg. Zuerst zu ihm. Dann zu diesem Erkennen und Erklären: Wir haben versagt. Gegenüber Friedrich Klein. Gegenüber Generationen, gegenüber Liebenden, die lieben, wie sie lieben, weil Gott sie selbstverständlich und innig liebt. Aus diesem Erkennen auf den Weg, der so anders sein muss als die Wege bisher. Frieden ist eine Frage des Tuns, eine Sache der Tat, nicht nur des schönen Wachstums.
Die Kirchenleitung hat das Unrecht anerkannt, die Entlassung Pfarrer Kleins für nichtig erklärt. Sie will aufarbeiten, was auch anderen geschehen ist. Sie will sich grundsätzlich erklären. Und sie will Hilfe schaffen, eine Anlaufstelle. Sie will hören, was war und wie es Menschen auch heute in und mit ihrer Kirche geht, die gleichgeschlechtlich lieben. Schritte auf dem Weg des Friedens, hoffentlich. Vorher keine falsche Beruhigung. Kein falsches Verschleiern. Unrecht hat Unrecht geschaffen. Das Wort der Umkehr zu Gottes Lieben will ich sagen. Gott, schenke das Wort. Im Namen Deiner Liebe.
Das wäre schön. Wenn der 1. September ein Tag der Liebe würde. Ein Tag des Frie-dens. Ein Tag des Anerkennens. Ein Tag, der der Wüste ein Ende setzt und das Recht hervorholt. Ein Tag des Jesaja, des Propheten. Aber, liebe Gemeinde, das lässt sich nicht einfach herbeirufen. An mir ist: das Unrecht benennen. Dazu stehen. Vor der Öffentlichkeit und vor Gott sagen. Mit dem festen Willen, Jesajas Worte zu suchen. Recht und Frieden. Gott, steh bei. Und lass es werden, das bitte ich. Amen.
Erklärung der Kirchenleitung der EKBO
Verlesen durch Bischof Christian Stäblein am 1. September 2020, zu Pfarrer Friedrich Heinrich Klein
Pfarrer Friedrich Heinrich Klein, geboren am 3. August 1905, wurde am 2. Januar 1943 aufgrund seiner Verurteilung nach § 175 StGB zu drei Jahren Haftstrafe wegen einer homosexuellen Beziehung vom Evangelischen Konsistorium der Mark Brandenburg unter Verlust seiner geistlichen Rechte und Bezüge aus dem kirchlichen Dienst entlassen.
Laut Beschluss der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) vom 21. August 2020 wird der Entzug der Ordinationsrechte von Pfarrer Friedrich Heinrich Klein als Unrecht anerkannt und für nichtig erklärt. Dies wird heute, 85 Jahre nach der Verschärfung des § 175 StGB, durch diese Erklärung öffentlich gemacht. Der Kirchenleitung steht nachdrücklich vor Augen, welches Leid der Entzug der Ordinationsrechte über Pfarrer Klein und seine Angehörigen gebracht hat. Sie weiß, dass sie Unrecht und Leid nicht ungeschehen machen kann. Im Namen der Kirchenleitung der EKBO bekenne ich hiermit die Schuld, die wir auf uns geladen haben. Vergebung liegt nicht in unserer Hand. Ich hoffe und bitte um sie.
Menschen zu diskriminieren und Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren, ist Sünde. Gleichgeschlechtliche Orientierung zu verurteilen ist nicht vereinbar mit dem Bild vom Menschen, wie es die Auslegung der Schrift lehrt. Die evangelische Kirche ist Teil einer langen leidvollen Geschichte der Ausgrenzung und hat Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung Schutz und Anerkennung verweigert. Sie hat nicht nur zu dem Unrecht, das auch durch die jeweilige staatliche Rechtsprechung erfolgte, geschwiegen. Sie hat durch Lehre und Praxis Menschen in schwere persönliche, leibliche und spirituelle Not gebracht.
Die erlittene Not zu erkennen, in Erfahrung zu bringen, was erfahren werden kann, die Geschichten von Verwundung und Schmerz nicht zu verschweigen, sondern zu erzählen und sich der Vergangenheit zu stellen, bleibt Auftrag – über die Aufarbeitung der Lebens- und Leidensgeschichte des Pfarrers Klein hinaus.
Die Kirchenleitung begrüßt ausdrücklich das Anliegen, die Diskriminierungserfahrungen, die Menschen mit queerer Identität (LSBTIQ*A) in und mit unserer Kirche in der Vergangenheit gemacht haben und (vereinzelt) auch weiterhin noch machen, zu thematisieren. Sie bittet in diesem Zusammenhang um die Erarbeitung eines Bußwortes bzw. einer theologischen Erklärung bis zum Sommer 2021 im Hinblick auf Unrecht und Diskriminierung von Mitarbeitenden der EKBO und ihrer Vorgängerkirchen.
Die Kirchenleitung bittet darüber hinaus um Prüfung der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas „Homosexualität und Pfarramt im Bereich der EKBO und ihrer Vorgängerkirchen“.
Sie bittet das Konsistorium um die Errichtung einer Anlaufstelle für Betroffene und deren Angehörige.
Wenn ein Glied am Leib Christi leidet, leidet der gesamte Leib.
Die Erneuerung unserer Gemeinschaft ist angewiesen auf die Klarheit über Vergangenes, auf Vergebung und – wo Gott sie gibt – auf Versöhnung.