Das alte Haus in der Mindener Innenstadt hallt wider vom Ratttern der Bohrmaschinen. Das ganze Erdgeschoss ist in Staub gehüllt, und selbst der Weg zur Kaffeemaschine in der Küche muss erkämpft werden. Was im Moment noch eine riesige Baustelle ist, soll im Sommer eine gemütliche Herberge für Pilger und Touristen werden – und gleichzeitig eine neue Form, Gemeinde zu leben.
Gesucht werden Menschen mit Ideen und Mut
Denn die traditionell verfassten Kirchen in Deutschland schrumpfen. Das hat verschiedene Gründe, angefangen bei der Alterszusammensetzung der Gesellschaft über manche Verkrustungen in den Gemeindestrukturen bis hin zu einem immer individueller verstandenen Glauben vieler Menschen, die sich in den alten Formen der Kirchlichkeit nicht mehr zu Hause fühlen.
Das Problem ist längst erkannt, und es gibt zahlreiche Strategien, dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken. Einer davon ist der Versuch, den Begriff Gemeinde weiter zu denken, als wir das in der Kirche normalerweise tun. Denn das, was wir darunter verstehen, ist nicht etwa eine Erfindung Jesu, wie der westfälische Kirchenjurist Hans Tjabert Conring betont: „Die Gemeinde mit ihren Gruppen und Kreisen, ihren Gemeindezentren, den überschaubaren Pfarrbezirken und der Abgrenzung zur Nachbargemeinde ist das Ergebnis einer Reform, die der Pfarrer Emil Sulze vor rund 100 Jahren angestoßen hat“, erklärt der westfälische Oberkirchenrat. „Solche Kirchengemeinden sind ganz Kirche – aber sie sind nicht die ganze Kirche.“
Sprich: Es gibt noch unzählige andere Möglichkeiten, Gemeinde Jesu Christi zu denken und zu leben. Man muss nur drauf kommen – und dann die Ideen in die Tat umsetzen.
Das passiert gerade in Minden, wo ein altes Haus und eine junge Frau im Mittelpunkt eines Gemeinde-Experiments stehen. Das ehemalige Pfarrhaus neben der Altstadtkirche St. Simeonis wird schon seit Jahren nur noch sporadisch genutzt. Das brachte Jugendreferent Friedrich Kasten auf eine Idee: Warum nicht hier ein offenes Haus anbieten, in dem Pilger, Touristen und kleine Gruppen übernachten können – und gleichzeitig eine Art Keimzelle für eine andere Form von Gemeinde schaffen? Freundschaft anbieten für Menschen, die Gott suchen, denen die Schwelle der kirchlichen Angebote aber zu hoch scheint?
„Das ist doch eine super Kombination: Die einen kommen, die anderen sind da – so kommt man ins Gespräch, stellt Fragen und findet Antworten“, meint Kasten. Seine Vision dabei: „Eine neue Form von Gemeinde, in der wir uns mehr Zeit nehmen für Beziehungen und Begegnungen und den Menschen so die Begegnung mit Gott ermöglichen.“
Manche Inspirationen hat Kasten aus der „Fresh X“-Bewegung gezogen, einer Gemeindeaufbau-Bewegung, die vor allem in Großbritannien erfolgreich mit neuen Gemeindeformen experimentiert. Diese Bewegung hat auch in deutschen Kirchen viele Anhänger – aber, so meint Kasten: „Es hat keinen Sinn, nur zu reden und Studienreisen zu machen. Man muss auch einfach mal ausprobieren.“
Kasten gründete einen Verein, um den langen Weg durch die kirchlichen Gremien abzukürzen. Mitglieder wurden Interessierte aus der evangelischen Jugendarbeit, aber auch aus Freikirchen oder der katholischen Kirche. Gemeinsam begannen sie, das Haus zu renovieren und gleichzeitig nach einem Menschen zu suchen, der in der „Simeons-Herberge“ wohnen und sie mit Leben und Geist füllen wollte.
Dieser Mensch wurde Simone Hipp. Die zierliche junge Frau hatte gerade nach einigen Jahren als Flugbegleiterin die dreijährige Ausbildung an der Evangelistenschule Johanneum in Wuppertal absolviert. „Als ich nach einer Stelle suchte, habe ich zu Gott gesagt: Ich brauche was, das anders ist“, erzählt sie. Die Ausschreibung aus Minden hat sie direkt angesprungen. Ihr Wunsch: frischen Wind hineinbringen in die traditionellen Strukturen von Kirche – ohne den vorhandenen Angeboten Konkurrenz zu machen. „Wir wollen niemandem etwas wegnehmen, sondern Neues hinzufügen“, betont Hipp.
Ihre Aufgabe dabei ist noch nicht fest umrissen, und das wird wohl auch so bleiben – die Offenheit gehört zum Konzept. „Ich bin hier, um meine Berufung zu leben. Die Menschen um mich herum, die sind meine Arbeit“, erklärt sie. Im Moment lädt sie regelmäßig zum „Eat and meet“ ein: Gemeinsam mit Nachbarn und Interessierten wird in der großen Küche gekocht und gegessen. Die, die kommen, müssen nicht christlich sein, sagt Hipp. Statt einer Andacht stellt sie vor dem Essen die Frage: Wofür warst du heute dankbar? „Wir sollten nicht so viel Angst haben, wenn es darum geht, was Kirche ist und wie Gemeinde auszusehen hat“, meint die Evangelistin.
Neugierde und Offenheit gehören zum Profil
Demnächst wird die 34-Jährige auch Leiterin des Herbergsbetriebes sein – ab dem Sommer, wenn hoffentlich die Umbauarbeiten erledigt und alle feuerpolizeilichen Vorgaben erfüllt sind. Dann wird sie sich um die Belegung und das leibliche Wohl der Gäste kümmern. „Vielleicht wird es auch einmal eine liturgische Form geben, so eine Art Pilgersegen, zu der wir alle, die möchten, einladen“, sagt Simone Hipp. Wie der aussehen soll, weiß sie im Moment noch nicht. Neugierde und Offenheit für die Menschen, die kommen, gehören zu ihrem Stellenprofil. „Das Leben mit Gott ist Abenteuer“, heißt ihre Devise.
Internet: www.weitere-wege.de.
