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Unausweichliche Folge: Kirchenaustritt

Gott hatte ihn verlassen. Davon war der damals siebenjährige Martin überzeugt, als er ins Kinderheim kam. Daraufhin hat er Gott verlassen. Viele Jahre war Religion kein Thema mehr für den heute 59-Jährigen

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Unsere siebenteilige Serie mit persönlichen Schicksalen zu den sieben letzten Worten Jesu geht weiter mit einer Geschichte zu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15,34).

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte hätte Martin (Name von der Redaktion geändert) für das, was in seinem Inneren vorging, damals sicherlich nicht gewählt. Aber das elende Gefühl, verlassen zu sein, das steckte schon tief in ihm. Nur: Gefragt wurde er danach nicht. Die Betreuerin vom Jugendamt tat lediglich ihre amtliche Pflicht. Als es zuhause niemanden mehr gab, der sich um den Jungen hätte kümmern können, suchte sie für ihn einen Platz im Kinderheim. Seine Seele? Seine Ängste? Seine Sehnsüchte? Dafür interessierte man sich Mitte der 1960er Jahre bestenfalls am Rande.
Sieben Jahre alt war Martin zu diesem Zeitpunkt. Zwei Jahre vorher war sein Vater gestorben. Und dann wurde auch noch seine Mutter schwer krank. So krank, dass sie für lange Zeit außer Gefecht gesetzt war, wie Martin sagt. Angehörige, zu denen er hätte gehen können, gab es nicht. Also blieb nur das Heim. Da musste er nun bleiben. Drei lange Jahre.
Schwer wie Blei legte sich die Einsamkeit über den Jungen. Zumindest in den ersten Monaten. Alles beherrschend war das Gefühl, verloren und auf sich allein gestellt zu sein. Und das, obwohl er doch niemals allein war. Immer waren andere Kinder um ihn herum. Viele, zu viele, sogar nachts, denn geschlafen wurde im Zehn-Bett-Zimmer.
Alles im Kinderheim war anders als zuhause. Was Martin vor allem vermisste: Geborgenheit und Nähe, wie er sie bei seiner Mutter erlebt hatte. Die Dinge, die ein Mensch braucht, um sein Urvertrauen nicht zu verlieren. Mit dem Abschied vom Vater und von der Mutter hatte er auch das verloren.
Damit war für den Jungen irgendwann klar: Selbst der liebe Gott war nicht mehr an seiner Seite. Denn seine Hilferufe – heimlich in der Nacht gen Himmel geschickt – blieben unbeantwortet. Sein Wunsch, wieder nach Hause zurückkehren zu können, erfüllte sich nicht.

Gott – nicht mehr als ein falscher Trost?

Aber Martin zerbrach nicht. Im Gegenteil: Er wurde stark. Aus der Angst, der Einsamkeit, der Verzweiflung wuchs ein Selbstbewusstsein, das nicht nur die anderen Kinder und die Betreuerinnen zu spüren bekamen. Aus dem zarten und schüchternen Jungen wurde einer, der auch schon mal zurückschlagen konnte, wenn es darauf ankam. Auch mit Gott, den er mehr und mehr für einen falschen Trost hielt, rechnete er ab. Martin traf jetzt seine eigene Entscheidung: Gott hatte ihn verlassen, nun verließ er Gott, verbannte ihn aus seinem Leben. Für immer.
Seinen Glauben an einen Vater im Himmel, mit dem er in seinem katholischen Elternhaus groß geworden war, legte er ab. Mit wachsendem Alter immer deutlicher, immer radikaler. Dabei hatte er im Kinderheim nicht die Erfahrungen machen müssen wie viele andere Jungen und Mädchen in den 1950er und 1960er Jahren. Bis heute betont er immer wieder, dass es keine Misshandlungen gegeben habe und keinen Missbrauch in dem katholischen Haus in Bochum.
Im Gegenteil: Er spricht mit großem Respekt über die Nonnen und ihrem aufopferungsvollen Dienst: „Sie haben alles getan, was in ihrer Macht stand, um uns Kindern das Leben so erträglich wie möglich zu machen.“ Allerdings seien ihre Möglichkeiten begrenzt gewesen, obwohl sie quasi rund um die Uhr im Einsatz waren. Es gab schlichtweg viel zu wenig Personal für die vielen Kinder. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten ihre liebe Not, das „Alltagsgeschäft“ am Laufen zu halten, für „Streicheleinheiten“ sei da kein Raum gewesen.
Wenn der heute in Bielefeld lebende 59-jährige Ingenieur seine Geschichte erzählt, wird klar: Es ist sein persönliches Schicksal, das ihn Gott entfremdet hat. Trotz christlicher Erziehung, trotz religiöser Rituale im Heim, trotz seines Amtes als Messdiener (das er übrigens unter dem Vorwand, den Weihrauch nicht vertragen zu können, schnell wieder an den Nagel hängte).
Die Entfremdung ging so weit, dass Martin die Frage „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – irgendwann gar nicht mehr stellte. Da war kein Hadern, Gott war einfach nicht mehr von Interesse. Und wenn er zum Thema wurde – etwa im schulischen Religionsunterricht, an dem ja auch Martin bis zum 14. Lebensjahr teilnehmen musste –, dann stellte er mit Vorliebe kritische Fragen. Damit handelte er sich manchmal Ärger ein, manchmal aber auch den Respekt des Religionslehrers. Schließlich war er ein klarer, ein logischer Denker, der die Widersprüche in der Bibel, die Vergehen in der Geschichte des Christentums und die vielerorts vorhandene Heuchelei in Moral- und ähnlichen Fragen sehr wohl wahrnahm.
So richtig und ehrlich beantwortet hat ihm allerdings niemand seine Fragen. Unausweichliche Konsequenz war der Kirchenaustritt mit Beginn der Religionsmündigkeit. Viele Jahre sah Martin danach kein Gotteshaus mehr von innen. Das Thema war aus seinem Leben verschwunden.
Das änderte sich erst, als er seine jetzige Frau traf. Sie selbst evangelisch und kirchliche Angestellte, Theologen in der Verwandtschaft – da blieben Diskussionen nicht aus, weil Martin, wie er heute zugibt, auch gerne mal provozierte und nicht damit hinterm Berg hielt, dass er Religion nur was für zurückgebliebene und schlichte Gemüter hielt.

Diskussionen über Gott blieben

Bei dieser Grundhaltung hat seine Frau, wie er erzählt, auch gerne auf eine kirchliche Trauung verzichtet. Ihn zum Lügen verführen, das habe sie nicht gewollt. Zu einem echten Miteinander-Ringen aber wurde die Sache mit der Taufe der Tochter. „Ein Herzensanliegen meiner Frau“, sagt Martin. „Na ja, und dann haben wir so lange in der Bibel gesucht, bis wir in den Sprüchen Salomos einen  Taufspruch fanden, in dem Gott  nicht vorkam.“ Die beiden hätten den Konflikt gegenüber dem Pfarrer im Taufgespräch offen thematisiert und am Ende sei daraus trotz allem eine Feier geworden, mit der alle leben konnten.
Diskussionen über Gott aber, über die Kirche, über das Vertrauen in eine höhere Macht – sie blieben auch nach der Taufe ständige Begleiter der Familie. Mit ihnen ist die Tochter groß geworden. „Ein wenig habe ich im Laufe der Jahre meine radikal antireligiöse Haltung aufgeweicht“, sagt Martin, „nicht zuletzt aus Respekt vor den Werten meiner Frau“. „Irgendwann konnte und wollte ich auch nicht mehr nein sagen zum Kindergottesdienst, zu dem meine Tochter gerne gehen wollte.“ Seine Frau habe in der Hoffnung „steter Tropfen höhlt den Stein“ auch immer wieder versucht, ihm verständlich zu machen, welche guten Botschaften doch im christlichen Glauben stecken, was es für Kinder bedeuten kann, einem „lieben Gott“ zu vertrauen. Seine Frau, so sagt Martin, habe immer wieder darauf insistiert, dass man doch dem Kind die Chance geben müsse, positive Erfahrungen mit der Religion zu machen – „auch wenn du das nicht mehr nachfühlen kannst“.  
Die religiösen Erfahrungen der Tochter waren dann wirklich positiv, sagt Martin. Immerhin studiere sie jetzt Theologie – wozu er, wie er bekennt, noch vor einigen Jahren gesagt hätte: „Nur über meine Leiche!“
Aber erstens ist Martin ein liebender und zweitens ein toleranter Vater, mittlerweile auch gegenüber der Religion. „Ich war überzeugt in meinem Atheismus. Jetzt würde ich sagen, ich bin ein Agnostiker, also einer, der die Existenz einer göttlichen Macht nicht erkennen, aber sie damit eben auch nicht grundsätzlich ablehnen kann.“
Martins Bibelkenntnisse jedenfalls werden aktuell immer bessser. Er fragt nämlich seine Tochter für ihre bevorstehende Bibelkunde-Prüfung ab…