„Una und Ray“ – Sehenswertes Psychodrama zum Thema Missbrauch

Theaterstücke als Kinofilm – das kann schiefgehen. Im Fall von „Una und Ray“ gelang 2016 die Adaption, dank einer einfallsreichen Inszenierung und zweier grandioser Hauptdarsteller Rooney Mara und Ben Mendelsohn.

In Zusammenarbeit mit dem Kinoportal filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission bietet die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) Fernsehtipps zu besonderen Spielfilmen im deutschen Fernsehen:

Nach vielen Jahren entdeckt die 28-jährige Una (Rooney Mara) ihren früheren Nachbarn Ray (Ben Mendelsohn) wieder, den sie als 13-Jährige anhimmelte und dem sie sich sexuell hingegeben hat. Sie konfrontiert ihn an seinem Arbeitsplatz mit ihren offenen Fragen, die der Angegriffene mit überraschenden Antworten kontert, wodurch sich die Fronten in dem Disput allmählich verschieben.

Während Una ihn mit ihren Fragen in die Enge treibt, holen ihn die Erinnerungen ein. Für die damalige Beziehung hat er bezahlt und sich nach vier Jahren Gefängnis mühsam unter anderem Namen ein neues Leben aufgebaut. Aufgewühlt von Unas Erscheinen, weigert sich Ray auf einer Betriebsversammlung, einigen Mitarbeitern zu kündigen, wie es die Unternehmensleitung erwartet. Er läuft davon und versteckt sich mit Una im Gebäude. Die beiden rekapitulieren, wie der letzte gemeinsame Abend verlief. Una hat für Ray immer noch starke Gefühle, und auch er spürt, wie leicht die Vergangenheit wieder lebendig werden kann.

Ein herausforderndes Psychodrama mit grandiosen Darstellern, die ihre Figuren durch zwiespältige Abgründe von Schuld und Begehren treiben. Die theatralische Grundsituation wird durch kluge Verlagerungen und Rückblenden aufgebrochen. Das packende Drama von Benedict Andrews verweigert jede moralische Gewissheit und konfrontiert mit den Facetten einer undenkbaren Liebe.

Dreimal blickt der Zuschauer in Augenpaare, die ausdrücken, was noch nicht ausgesprochen wird. Zuerst ist da die 13-jährige Una, die sich in einem ruhigen Vorstadtviertel auf verbotene Pfade begibt. Als sie die Tür zum Garten des Nachbarhauses öffnet, versichert sie sich, unbeobachtet zu sein; ihre Augen glänzen etwas unsicher, aber erwartungsvoll.

Davon ist in der nächsten Szene, 15 Jahre später, bei der erwachsenen Una nichts mehr zu sehen. Gleichgültig verbringt sie einen Discoabend, hat anonymen Sex auf der Toilette und schleicht sich erst im Morgengrauen nach Hause. Noch immer lebt sie im selben Haus wie als Kind. Ihrer Mutter begegnet sie liebevoll, aber distanziert; doch ihr matter, verhuschter Blick verrät, dass der jungen Frau Schlimmes widerfahren ist.

Und dann ist da der Schock in den Augen des etwa 50-jährigen Vorarbeiters, als Una bei ihm in der Fabrik auftaucht. Vor seinen Kollegen, die ihn unter dem Namen Pete kennen, hat er sich noch im Griff, doch die unerwartete Begegnung setzt verdrängte Gefühle in ihm frei.

Der australische Theaterregisseur Benedict Andrews etablierte 2016 in seinem Kinodebüt „Una und Ray“ von Beginn an eine Atmosphäre der Anspannung. Diese löst sich erst ein wenig, als die beiden Hauptfiguren im Pausenraum der Fabrik ihren Disput eröffnen. Rasch herrscht Gewissheit über die Fakten: 15 Jahre zuvor war der Mann, der eigentlich Ray heißt, Unas Nachbar und der beste Freund ihres Vaters. Das Mädchen fühlte sich zu ihm hingezogen, erste verstohlene Treffen fanden statt. Schließlich gab es sich ihm sexuell hin, gefangen in der jugendlichen Illusion, dass sie ein romantisches Leben zu zweit führen könnten. Stattdessen folgten die Entdeckung, Rays Verurteilung und später ein Leben unter neuer Identität – bis Una ihn durch Zufall wieder entdeckte.

Viel mehr ist nicht eindeutig in dieser filmischen Adaption des Theaterstücks „Blackbird“ von David Harrower. Una ist nicht auf Rache aus, obwohl sie Ray für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich macht. Sie hat Fragen, die sie schon damals quälten und die sie Ray nun endlich ins Gesicht schleudern kann: Ob es ihm wirklich nur darum gegangen sei, ein unwissendes, verknalltes Mädchen auszunützen? Und ob er auch andere Affären mit Minderjährigen hatte, ob sie nur eine von vielen war? Was Ray von sich weist. Weder vor noch nach Una habe er pädophile Begierden empfunden, „ich war nie einer von denen“. Die Zuneigung zu ihr sei moralisch falsch, aber aufrichtig gewesen, für sein Vergehen habe er reichlich gebüßt.

Eine hohe Qualität der literarischen Vorlage liegt in der Art, wie sie einem während dem verbalen Schlagabtausch den scheinbar sicheren Boden moralischer Gewissheiten unter den Füßen wegzieht. Einfache Antworten und eindeutige Sympathieverteilung gibt es hier nicht. Regisseur Andrews verstärkt dies, indem er seine beiden grandiosen Hauptdarsteller die Ambiguität ihrer Figuren schonungslos ausspielen lässt: Rooney Maras zerbrechlich wirkende Una erweist sich immer mehr als instabiler Charakter; ihre Beharrlichkeit hat selbstquälerische Anstriche, und sie setzt die erlittenen Schmerzen durchaus manipulativ ein. Ben Mendelsohn verleiht Ray eine grundsolide Ausstrahlung, die seine Reue-Erklärungen glaubhaft macht, ohne dass sein Verhalten entschuldbar würde.

Zudem bereitete die Inszenierung den Stoff einfallsreich fürs Kino auf. Für die Adaption hat Harrower den engen Rahmen des Stücks – ein Raum, zwei Figuren – sinnvoll erweitert. Eine Reihe von Nebencharakteren ist hinzugekommen, aus denen vor allem ein junger Mitarbeiter hervorsticht, der ungewollt zur Mittlerfigur wird.

Andrews fügt immer wieder kleine Rückblenden ein, die das Gesagte stimmig ergänzen, und nutzt das Ambiente famos: Durch die Präsenz von Rays Kollegen muss die zentrale Auseinandersetzung mehrfach in einen anderen Abschnitt der Fabrik verlagert werden, die aus riesigen Lagerhallen, labyrinthischen, grellweißen Gängen und klaustrophobischen Räumen besteht. So wird anschaulich, welcher Belastung Una und Ray ausgesetzt sind: Was sie auch tun, ihr ewiges Versteckspiel hört niemals auf.