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Ukrainische Verlegerin: Im Krieg wird leichtere Lektüre verlangt

Schwere Lesekost ist bei der ukrainischen Bevölkerung derzeit weniger gefragt. “Wir beobachten einen gewissen Eskapismus”, sagte die Leiterin des ukrainischen Verlags “Vivat”, Julia Orlowa, der “Süddeutschen Zeitung” (Mittwoch). Ihr Haus gilt als eines der größten des Landes. Alle seien erschöpft, niemand wisse, wann der Krieg ende, so die Verlegerin. “Die Trends sind deshalb klar: Fantasy, romantische Komödien, vielleicht noch Krimis.”

Dennoch veröffentlicht der Verlag mit Sitz in Charkiw auch anderes. Laut Orlowa gehört dazu das letzte Werk des Kinderbuchautors Wolodimir Wakulenko. Er lebte in einem Dorf nicht weit von Charkiw, als russische Truppen die Region eroberten. Sie verschleppten den Schriftsteller, folterten ihn und brachten ihn um. “Er hat ein Tagebuch geschrieben und unter einem Kirschbaum vergraben. Nach der Befreiung ein halbes Jahr später wurde das Manuskript gefunden. Wir haben es herausgebracht, obwohl es eine furchtbare Arbeit war.” Dieses Buch hätte es nie geben dürfen, so die Verlegerin, lieber hätte sie stattdessen die Gedichte von Wakulenko herausgebracht.

Niemand im Verlag wolle noch mit russischen Manuskripten arbeiten, berichte die Verlegerin weiter. Dies habe vor allem mit dem Gefühl von Verletzlichkeit zu tun. “Wir alle träumen von einem Ende des Krieges. Die Menschen sind traumatisiert, verwundet.” Die Unberechenbarkeit sei furchtbar, vor allem für die Starken, die es gewohnt seien, ihr Leben, ihre Umgebung zu gestalten und zu kontrollieren.

Sie selbst sei in Murmansk geboren und russischsprachig aufgewachsen, erzählte Orlowa. Inzwischen spreche sie nur noch Ukrainisch. “Mein Wortschatz ist auf Russisch noch immer größer, aber dieser Krieg hat alles verändert. Ich würde mich nicht mehr mit russischen Kollegen auf ein Podium setzen, trage immer etwas Ukrainisches, ein Tuch, ein Armband, eine Brosche.”

“Vivat” gehe es wirtschaftlich gut, so die Verlegerin. Zuletzt habe es einen Zuwachs gegeben. 2022 seien 359 Bücher herausgegeben worden, in diesem Jahr rechne sie mit 400. Gearbeitet werde fast ausschließlich aus der Distanz. Die meisten ihrer 120 Mitarbeitenden lebten inzwischen im Ausland. In der Buchbranche arbeiteten vor allem Frauen, diese dürften unter dem Kriegsrecht ausreisen, erläuterte Orlowa. Sie gehe davon aus, dass wohl später nicht alle zurückkehrten. “15 bis 20 Prozent werden uns fehlen, qualifizierte, gute Leute. Der Mangel an Fachkräften wird eines der größten Probleme für unser Geschäft nach dem Krieg.”