Über Faszination und Feindschaft gegenüber Möwen
Sie zieren Postkarten, schwirren in Baby-Mobiles oder runden maritime Deko ab: Die meisten Menschen verbinden Möwen mit Sommer, Meer und Urlaub. Vielfach werden die Raubvögel aber auch als Plage wahrgenommen.
Fliegen, schwimmen oder Fischbrötchen stibitzen – und all das direkt am Meer: Das Leben als Möwe bietet einige Verlockungen. Für Holger Teschke, der früher als Maschinist auf Fischkuttern unterwegs war, waren diese Vorzüge auch ein Anstoß für die Recherchen zu seinem neuen Buch: “Möwen” ist vor kurzem in der Reihe “Naturkunden” bei Matthes & Seitz erschienen. Auf Rügen aufgewachsen, war die Ostsee für Teschke in der Kindheit “gewissermaßen die Mauer – und die Möwen konnten einfach abheben und weiterfliegen. Das fand ich immer toll.”
Doch der Autor weiß auch: Möwen gelten heute vielfach als “‘Problemvögel’, die bedrohte Seevogelarten dezimieren, denkmalgeschützte Bauten verätzen und Menschen um ihre Fischbrötchen bringen. Das diente jahrhundertelang als Vorwand für einen brutalen Krieg gegen die Möwen”. Dabei sind auch Möwenarten unter jenen zwei Dritteln aller Seevögelarten, die in den kommenden Jahrzehnten laut Fachleuten aussterben könnten. Seuchen wie die Vogelgrippe und Naturkatastrophen sind weitere Bedrohungen.
Vogelfreunde haben den 14. März und auch den 27. April als Weltmöwentag oder “Seagull Appreciation Day” ins Spiel gebracht – bislang ohne weltweite Beachtung. Der schleswig-holsteinische NABU betont, dass an Befürchtungen von Lärmbelästigung bis zur Verbreitung von Krankheitserregern “in der Realität wenig dran” sei.
Doch woher kommt das zwiespältige Image der Vögel? In vergangenen Jahrhunderten dienten sie mitunter als Nahrungsmittel, zeitweise wurden sie aber auch als “Seelenvögel” verehrt – so etwa dargestellt in Gemälden von Caspar David Friedrich. Eine mögliche Erklärung: Sie sind dem Menschen zu nah gekommen. Als sogenannte Kulturfolger flattern sie dorthin, wo es Futter gibt. “Wenn die Menschen also überall Abfall hinwerfen und die Möwen sogar füttern, ist es kein Wunder, dass sie sich daran gewöhnen”, sagt Teschke.
Eiscafes und Fischbuden an den Küsten warnen inzwischen vor hungrigen Tieffliegern. Aber, so Teschke: “Möwen sind schlaue Vögel. Die kriegen es mit, wenn Leute ihr Fischbrötchen ganz eng am Körper tragen – und lassen sich Tricks einfallen, damit die Leute das Brötchen fallenlassen oder hochheben.”
Auch in Städten haben sich die “Kulturfolger” immer weiter ausgebreitet; der Vatikan wollte der “Plage” während der Corona-Zeit mit Laserstrahlen Herr werden. Im Berliner Senat kümmert sich ein Vogelkundler auch um Möwen, sieht jedoch kein Problem mit aggressiven Angriffen auf Pommesschälchen. Auch fütterten Möwen ihre Jungen ungern mit Müll, heißt es in Teschkes Buch – und legten für Frischfutter vielmehr weite Strecken zurück.
Wenn sich die Ernährung der Vögel verändert, sieht der britische Autor Adam Nicolson darin indes ein “Zerrbild” der menschlichen Lebensweise. Teschke beschreibt es als “gruselig”, was Forschende schon alles in den Mägen der Tiere gefunden hätten. Möwen seien Allesfresser und könnten mit ihrer starken Magensäure fast alles zersetzen. “Aber beim Plastik hört auch bei Möwen der Spaß auf. Von der Apokalypse des Anthropozän sind auch sie betroffen.”
Unter Seeleuten würden Möwen bisweilen als “Boten aus der Zukunft” bezeichnet, die beispielsweise auf kommende Stürme hinwiesen, sagt Teschke weiter. “Das müssen nicht immer meteorologische Stürme sein, sondern auch zivilisatorische Stürme. Wir sollten lernen, ein bisschen besser hinzuschauen und hinzuhören.”
Dass sich das lohnt, kann man erahnen, wenn der Autor ins Schwärmen gerät. Neben der guten Handvoll Möwenarten, die hierzulande verbreitet sind, hat er sich auch mit der Korallen- oder der Maori-Möwe befasst. “Allein diese Namen klingen schon toll”, sagt er. Die Arten zu bestimmen, sei mithin etwas für Fortgeschrittene.
Zudem seien Möwen klug, lern- und anpassungsfähig – und musikalisch. “Sie nutzen eine enorme Bandbreite an Tönen – von der Balz bis zur Abwehr, wenn ihre Jungen geschlüpft sind.” Was viele nur als schrille Schreie wahrnähmen, sei von Zoologen sogar in Notenumschrift festgehalten worden.