Türkei-Experte: Erdbeben verdrängt ethnische Unterschiede

Zwischen Kurden und Türken rücken ethnische Unterschiede momentan in den Hintergrund. Davon ist der Wissenschaftler Yunus Ulusoy überzeugt. Doch langfristig ist er pessimistisch.

Gemeinsam bergen diese Helfer einen Verschütteten im türkischen Hatay
Gemeinsam bergen diese Helfer einen Verschütteten im türkischen HatayImago / Nur Photo

Angesichts des durch die Erdbebenkatastrophe verursachten Leids rücken nach Einschätzung des Essener Zentrums für Türkeistudien ethnische Unterschiede zwischen Türken und Kurden in den Hintergrund. Die Nothilfe komme nach seinem Dafürhalten allen Bevölkerungsgruppen in dem betroffenen Gebiet zugute, sagte Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integration (ZfTI) dem Evangelischen Pressedienst epd. Unterschiede bei der Nothilfe gebe es eher zwischen den urbanen Zentren und ländlichen Regionen, die für die Helfer sehr viel schwerer zugänglich seien.

Die Katastrophe habe auch die türkischstämmigen Menschen in Deutschland „bis ins Mark getroffen“, sagte Ulusoy. Viele hätten Angehörige und Verwandte in der Erdbebenregion und könnten durch türkische Medien die Not und die verheerenden Auswirkungen live verfolgen. Es gebe eine große Welle der Hilfsbereitschaft, sagte der Wirtschaftswissenschaftler: Einzelpersonen, Unternehmen und Zivilgesellschaft sammelten Sachspenden und transportierten sie durch Flugzeuge oder Lastwagen in die Türkei.

Nicht in die Türkei reisen!

Manche wollten auch selbst in die Türkei reisen, um persönlich dort zu helfen, berichtete Ulusoy. Das mache seiner Einschätzung nach nicht viel Sinn, weil Einsatzkräfte vor Ort dadurch behindert werden könnten. Bereits jetzt verstopften hilfsbereite Menschen aus den türkischen Metropolen die Straßen ins Katastrophengebiet, die obendrein vielfach beschädigt seien.

Die Folgen des Erdbebens träfen alle in der Region, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Identität als Türken oder Kurden, sagte Ulusoy. Er wies darauf hin, dass unter den rund 15 Millionen in der Türkei vom Erdbeben betroffenen Menschen auch 1,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien seien. In der Stadt Hatay lebten zudem schon seit langem viele Menschen arabischer Herkunft.

Zu früh für „Abrechnung“

Inwieweit die Katastrophe die geplanten Präsidentschaftswahlen in der Türkei beeinflussen könnten, sei schwer zu sagen, erklärte Ulusoy. Angesichts der Notsituation könnte etwa die Kritik der Opposition an einer Zweckentfremdung der für Erdbebenvorsorge bestimmten Steuermitteln untergehen. Der Wahltermin im Mai oder Juni käme für eine „Abrechnung“ womöglich zu früh. An eine Veränderung der staatlichen Kurdenpolitik infolge der Notlage glaubt Ulusoy nicht.