Artikel teilen:

Trickfilm “Memory Hotel”: Düsterer Ort des Vergessens

Trickfilm über ein Mädchen, das es nach dem Zweiten Weltkrieg in ein verlassenes Hotel verschlägt und das dort fast sein gesamtes Leben verbringt.

1999 begann der 1961 bei Görlitz geborene Animationsfilmer und gelernte Puppenspieler Heinrich Sabl mit der Arbeit an seinem ersten abendfüllenden Trickfilm “Memory Hotel”. Er sollte in Stop-Motion gedreht werden, mit Puppen von Frank Michel, eigens komponierter Musik und einer detailfreudigen Ausstattung, alles in Handarbeit.

Was sich so leicht dahinschreibt, ist eine kleine Sensation. Denn anders als in Großbritannien, Frankreich oder Tschechien, wo etwa die Filme Jan Svankmajers als nationales Kulturgut gelten, sind Puppentrickfilme in Spielfilmlänge aus Deutschland eine Seltenheit. Hier werden Animationskünstler zwar ausgebildet und es werden ihre Kurzfilme gezeigt, doch es fehlt an Produktions-Infrastruktur, an Industrie, an einem Markt für die Langform.

Sabl aber fand immer wieder private Geldgeber. Sein Filmprojekt handelt von einem Mädchen, das zwischen 1945 und 1989 in Ostdeutschland Krieg und Besatzung erlebt, als Jugendliche als Küchenkraft in einem gespenstischen Hotel dient und schließlich als Erwachsene die neue Freiheit erfährt.

Dass der Film nun nach einem Vierteljahrhundert unter dem Titel “Memory Hotel” ins Kino kommt und dabei kein bisschen gestrig wirkt, liegt an einer simplen Tatsache: Flucht und Krieg bleiben nun einmal aktuell. Die Erinnerung ist es, die immer wieder entgleitet, neu verhandelt und umgedeutet wird. Zwischen kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung klafft oft ein Niemandsland.

In so einem Nichts steht dieses merkwürdige “Memory Hotel”: Die Leuchtbuchstaben hängen schief, und in seiner Oberfläche aus braungrauen Stahlplatten gleicht es eher einem gigantischen Militärpanzer oder einem gestrandeten Raumschiff. Jahrzehnte lang kommt kein Gast, wie wir erfahren werden.

Anfangs herrscht Krieg. Eine Familie flüchtet auf dem Fahrrad vor der Roten Armee. Der durchsetzungsschwache Vater (gesprochen von Florian Lukas), die kluge Mutter (Steffi Kühnert) und die im Koffer versteckte Tochter Sophie (Elsa Seusing) stranden in dem scheinbar verlassenen Hotel. Wie sich herausstellt, hausen hier noch ein sadistischer Nazioffizier und sein Gehilfe, der dünne, blasse Hitlerjunge Beckmann (Milan Peschel).

Sabl dreht von Anfang an das Actionlevel hoch: Ein russischer Fallschirmjäger namens Wassili bricht sogleich von oben durch die Decke, ein Gemetzel bricht los, die Eltern sterben, das Kind überlebt, verliert aber sein Gedächtnis. Der Hitlerjunge versteckt sich tief im labyrinthischen Gebäude in einem Luftschutzraum, mit einer Riesenratte als Gesellschaft.

Die Regentschaft im Hotel ist streng hierarchisch aufgeteilt: Wassili wird von einem ebenfalls eingetrudelten russischen General zum Hotelchef bestimmt. Sophie sitzt in der buchstäblich unterirdischen Hotelküche an den Schalthebeln. Mithilfe willenloser, mechanisch agierender Truppenmitglieder stanzt sie am Fließband aus weißlichen Teigquadern runde Küchlein, die sie auf rotem Geschmodder zu “denen da oben” schickt. Dort essen die Offiziere und ihre namenlosen Soldatenpuppen.

Nachts träumt sich Sophie zur Kapitänin auf einem Schiff, das Gewitterstürmen trotzt. Die Küche ist ihr Reich, aber auch ihre Zelle innerhalb des Gefängnisses Hotel. Macht und Ohnmacht fallen in eins. Gegen die Männer und ihre Hochzeitspläne stemmt sie sich manchmal, dann doch nicht. Und irgendwo sind auch noch die berühmten Leichen im Keller.

Der Nazi wird nur halbherzig aus dieser Zweckgemeinschaft ausgeschlossen. Offensichtlich fungiert das Hotel als Parabel auf Nachkriegs-Ostdeutschland mit seiner Mangelwirtschaft, dem Beschweigen Rechtsradikaler, dem fernen Sehnsuchtsort Amerika und der aufoktroyierten und doch verlässlichen russischen Gefährtenschaft. Voraussetzung fürs Funktionieren des Ganzen ist aber das ausgelöschte Gedächtnis Sophies. Wird sie es wiederfinden?

Sabls Einfallsreichtum findet in allen Gewerken ihren Niederschlag, von Erik Lautenschlägers sachte mit Sowjetfolklore flirtenden Kompositionen bis zu den farbentsättigten Kulissen, Kostümen und Requisiten: In ihrer Liebe zum Mechanischen erinnern sie an die entrückten Bildwelten Veit Helmers und Wes Andersons, nur erschaffen sie eine weitaus düsterere Atmosphäre.

Die Stimmen (Svenja Liesau und Dagmar Manzel als jugendliche und ältere Sophie) sind prägnant voneinander unterscheidbar, und selbst lustige Einfälle wie der “Hunger!” oder “Hurra Hurra!” intonierende Russen-Chor (an dem auch der Schriftsteller Wladimir Kaminer mitgewirkt hat) sind gruselig.

Trotz all seiner Vorzüge leidet “Memory Hotel” an einer dramaturgischen Schwäche: Sabl erzeugt weniger einen großen Spannungsbogen, als dass er Spannungsverhältnisse stapelt wie Sophie das Essen in der Maschinenküche. Schlüsselmomente, die fürs Verständnis der Zusammenhänge wichtig sind, bekommen oft weniger Raum als die szenische Ausstaffage von Nebensträngen. Das Erregungslevel bleibt dabei fast durchgehend gleich hoch, was bisweilen die Aufmerksamkeit erschöpft.