Trauerorte am Straßenrand
Es ist immer ein mulmiges Gefühl – wer jetzt etwa unterwegs in den Urlaub ist und ein Unfallkreuz am Straßenrand sieht. Sie erzählen von Trauer, Verlust und vom Unfallopfer selbst – weltweit.
Wo Autos fahren, sind – schicksalhaft – auch Unfallkreuze zu finden: manche eher unscheinbar und verwittert, andere mit frischen Blumen, Kerzen und Kuscheltieren, Briefen und Fotos. An den Schmerz der Hinterbliebenen sowie die bohrende Frage nach dem Warum erinnert jedes einzelne Kreuz am Wegesrand.
Professorin Christine Aka vom Institut für Kulturanthropologie der niedersächsischen Universität Vechta beschäftigt sich seit Langem mit Unfallkreuzen und hat intensiv zum Thema geforscht. „Die Markierung eines Unfallortes verdeutlicht dessen dramatische Rolle“, weiß sie. Nicht zuletzt gehe es darum, dass Trauernde in der Krise des Verlusts ihre Emotionen und Bedürfnisse öffentlich darstellten. Das Phänomen des Unfallkreuzes sei dabei kein regional begrenztes, sagt Aka, sondern in fast allen Ländern und Kontinenten zu finden.
Forschung zu Unfallkreuzen in ganz Deutschland
Aka, die 250 Orte mit Unfallkreuzen auf insgesamt 10.000 Kilometern Straße im Bundesgebiet im Rahmen ihrer Feldforschung besucht und abgesucht hat, weiß, dass sie erzählen: nicht nur von der Trauer, sondern auch vom Unfallopfer, seinen Freunden und Hobbys – und von der Lücke, die er oder sie hinterlässt.
„Unfallkreuze entstehen in einer Situation des Übergangs“, sagt die Kulturanthropologin, die die Gestaltung der Sterbeorte als zeitgemäße Rituale interpretiert. Merkmale, Lage und Umfeld der fotografierten und dokumentierten Beispiele hat sie in einer Datenbank erfasst und in einem Buch veröffentlicht. Oft seien die Kreuze an Bäumen, nach lang gestreckten Kurven oder an Kreuzungen zu finden, resümiert sie. „Die meisten Unfälle“, hat sie herausgefunden, „passieren auf Landstraßen“. Meist werde die Geschwindigkeit zum Verhängnis. Allein im vergangenen Jahr 2022 gab es laut Statistischem Bundesamt 2.782 Verkehrstote auf deutschen Straßen.
Freunde und Bekannte wünschen sich Unfallkreuze
Dieter Gonnert, Leiter der Autobahnmeisterei Knetzgau im unterfränkischen Haßberge, erinnert sich an einen tragischen Fall, bei dem gleich zwei Ersthelfer eines Unfalls ums Leben kamen. „So etwas bleibt einem lange im Gedächtnis“, erzählt der 56-Jährige. „Unfälle sind immer plötzliche Geschehen, mit denen man nicht rechnet. Gerade deshalb schockieren sie uns so.„
Meist seien es in solchen Situationen Freunde und Bekannte, die den Wunsch äußerten, ein Unfallkreuz aufzustellen. „Wir kennen die Schlupflöcher im Wildschutzzaun“, sagt Gonnert, „und wissen, wie man dorthin kommt.“ Wer ein Kreuz aufstellen wolle, werde von ihm nicht abgewiesen, sondern ganz offiziell zum Ort des Geschehens begleitet. „Bei der Gestaltung ist es allerdings wichtig“, schränkt Gonnert ein, „dass nichts die anderen Verkehrsteilnehmer ablenkt.“
Unfallkreuze als Ort der Erinnerung
Solche Orte stufen Psychologen als sehr wichtig für die Hinterbliebenen ein, weiß auch Christine Aka. Schließlich stehe der Unfallort für die letzten Minuten beziehungsweise Sekunden im Leben des Angehörigen mit all seinen Gedanken und Ängsten; der Todesort grabe sich daher tief ins Gedächtnis ein.
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Immer wieder hat die Expertin im Gespräch mit vielen Hinterbliebenen gespürt, dass die letzten Minuten im Leben des Unfallopfers für viele ein wichtiges Thema und drängendes Bedürfnis bleiben. Dabei sei jeder Unfallort zunächst immer auch ein ‘verletzter Ort’, so die Expertin. „An diesen Orten der Verwüstung entsteht nach einer kurzen Phase der ersten Realitätsprüfung eine Trauerzone“, sagt sie. So lasse sich das Verlustgefühl verorten; es entstehe gleichsam ein „Mikrokosmos der Trauer“. Manchmal werde das Kreuz am Straßenrand zu einem dauerhaften Ort der Erinnerung.
Aus Erfahrung weiß Dieter Gonnert jedoch: „Die wenigsten Kreuze haben über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren hinaus noch Relevanz.“ Unfallkreuze, die juristisch als Sondernutzung fallen, werden zwar aus Pietätsgründen von der staatlichen Straßenbauverwaltung geduldet, genehmigt sind sie aber meist nicht.