Tod im ersten Stock

Es geht schon auf Mitternacht zu. Frau M. wacht plötzlich auf, weil sie keine Luft mehr bekommt. Ihr Ehemann liegt neben ihr, fragt, was denn los sei. Im nächsten Moment sackt die 78-Jährige auch schon zusammen. Ihr Mann wählt den Notruf. Noch am Telefon wird er zur Reanimation angeleitet, während sich Sanitäter und Notarzt mit Blaulicht und Sirene sofort auf den Weg machen. Im Schlafzimmer des Ehepaares angekommen – 1. Stock, Reihenhaus – übernehmen sie. Doch ohne Erfolg, Herz-Kreislauf-Versagen: Frau M. stirbt in dieser Nacht.

In solchen existenziellen Krisensituationen kommen Notfallseelsorger wie der Bremer evangelische Pfarrer Uwe Köster zum Einsatz, der Herrn M. begleitet hat und von den Ereignissen jener Nacht berichtet. Vorsichtig habe er Herrn M. gefragt, ob er erzählen könne, was er gerade erlebt habe. Der Mann, Anfang 80 und gehbehindert, habe zögerlich begonnen zu sprechen: Das könne doch alles nicht wahr sein. Seine Frau sei doch immer die Fittere von ihnen gewesen und außerdem fast fünf Jahre jünger.

Schlaganfall, Herzinfarkt, manchmal auch ein Suizid: Der plötzliche Tod eines Angehörigen in der eigenen Wohnung ist meistens der Grund, wenn Mitarbeitende der ökumenischen Notfallseelsorge in Deutschland alarmiert werden. Viele sprechen „von der stillen Katastrophe im ersten Stock“. Die Pastorinnen und Pastoren werden dann von Feuerwehr oder Polizei verständigt, um Menschen wie Herrn M. beizustehen.

„In solchen Situationen stürzt für die Betroffenen alles zusammen. Das löst Angst, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle aus“, verdeutlicht Köster: „Unsere Aufgabe ist es dann, durch das Chaos zu leiten.“ Gemeinsam werde geprüft, wer helfen könne. „Dazu gehört das soziale Netz mit Geschwistern, Nachbarn, Angehörigen und Freunden.“

Die Notfallseelsorge wird auch gerufen, wenn beispielsweise nach einem Unfall eine Todesnachricht überbracht werden muss. Und es gibt sogenannte Großschadenslagen, bei denen Begleitung gefragt ist: das Zugunglück in Eschede 1998 etwa, die Explosion eines Altenheims vor 24 Jahren in Bremen, der Amoklauf an einer Schule in Winnenden 2009, der Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin 2016, die Messerattacke kürzlich in Solingen.

„Wir gehen hin, wir sind da, wir halten mit aus“, so beschreibt es der bayerische Kirchenrat Dirk Wollenweber, Vorstandsvorsitzender der Konferenz der Notfallseelsorge in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In Bremen geschieht das seit nunmehr 25 Jahren, bundesweit bemühen sich seit den 1990er Jahren Einsatzkräfte aus Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei, noch an der Einsatzstelle Seelsorgerinnen und Seelsorger zu verständigen, damit sie Hinterbliebenen beistehen.

„Seit der Gründung sind wir in Bremen etwa 3.000 Mal von Polizei und Feuerwehr alarmiert worden“, blickt Köster zurück. Bundesweit waren es nach Angaben von Wollenweber alleine im vergangenen Jahr knapp 26.000 Einsätze, Tendenz steigend. Fast 7.000 Mitarbeitende begleiteten Hinterbliebene, Opfer, Angehörige, Zeugen, Überlebende und Ersthelfer.

Die Bedürfnisse sind dabei so unterschiedlich wie die Menschen selbst: Die einen wollen reden, manche ohne Punkt und Komma. Andere weinen, klagen, schweigen. Das Zuhören gehört dann zu den wichtigsten Kompetenzen eines Notfallseelsorgers oder einer Notfallseelsorgerin. Genau wie eine gewisse Distanz zum Leid des anderen. „Das heißt nicht, dass ich nicht empathisch bin“, sagt Wollenweber. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen Mit-Leiden und Mit-Gehen.“

Besonders belastend seien Einsätze, in denen es um Kinder gehe, etwa bei einem plötzlichen Kindstod, oder bei denen Gewaltdelikte eine Rolle spielten, sagt Köster, der auch als Polizeiseelsorger arbeitet. „Das trifft auch zu, wenn die sozio-ökonomische Lage der Betroffenen schwierig ist, Menschen vereinsamt oder gehandicapt sind oder kein soziales Netz existiert.“

Wie die Begleitung aussieht, bestimmen Köster zufolge immer die Betroffenen. Er erinnert sich an Herrn M., dem irgendwann Tränen die Wangen hinunterliefen. „Ich habe den Eindruck, dass er beginnt, die Situation stückweise zu realisieren“, formuliert der Seelsorger in seiner Fallskizze.

Als die Einsatzkräfte schließlich das Haus verlassen, bleibt Köster bei ihm. Darum habe ihn der Mann gebeten. Bald soll sein Sohn kommen, der auch tatsächlich kurze Zeit später im Elternhaus eintrifft. Gemeinsam mit Pastor Köster gehen sie die Treppe hoch zur Mutter in den ersten Stock, wo Ehemann und Sohn von der Verstorbenen Abschied nehmen.