Therapeutin: Mehr Empathie für Betroffene von sexuellem Missbrauch

Als Kind ist Ille Ochs von ihrem Vater in der Freikirche sexuell missbraucht worden, ebenso wie viele andere. Heute stärkt sie als Therapeutin Betroffene – zuletzt im Haus der Stille bei Greifswald.

Ille Ochs arbeitet als Kreative Tanztherapeutin mit Betroffenen.
Ille Ochs arbeitet als Kreative Tanztherapeutin mit Betroffenen.Fotostudio Kohl

Frau Ochs, wie lange hat es gedauert, bis Sie erkennen konnten: Mein geliebter Vater hat auch mir Gewalt angetan?
Sehr lange. Ich hatte die Übergriffe komplett verdrängt, obwohl sich schon damals deutliche Hinweise zeigten. Als ich Mitte 40 war, kamen plötzlich Panikattacken und andere Symptome hoch. Ich konnte monatelang kaum schlafen, hatte Attacken, wenn ich auf der Autobahn war, oder irgendwo im Geschäft, und wusste nicht warum. Ich war damals schon mit meinem Mann verheiratet, habe kreative Gruppen in der Gemeinde geleitet, was mir viel Spaß gemacht hat. Ich dachte, mir gehe es gut! Aber mit 46 habe ich begriffen: Irgendetwas ist da tief in mir… und zum ersten Mal wirklich hingeguckt.

Wie arbeiten Sie heute in Seminaren mit anderen Menschen zu dem Thema?
Jetzt bei einem Wochenendseminar in Weitenhagen bei Greifswald, im Haus der Stille, waren Menschen dabei, die sexuellen oder geistig-emotionalen Missbrauch erlebt haben, aber auch Interessierte, die mit Kindern arbeiten und verstehen wollten, was Missbrauch anrichtet und wie sie helfen können.

Mir ging es darum, den Betroffenen einen Raum zu bieten, in dem sie ihren Schmerz ausdrücken können. Und wo sie damit sehr ernst genommen werden. Diese Veranstaltungen sind keine Therapie. Ich arbeite als kreative Tanztherapeutin viel mit dem Körper, mit Bewegung. Schaue, dass ich mit den Teilnehmenden in die Aufrichtung komme. Denn missbrauchte Menschen sind meist innerlich verkrümmt. Ich lade sie ein, den Boden unter ihren Füßen wieder zu spüren, zu erleben: Der gibt mir Sicherheit.

„Innerlich verkrümmt“?
Ja. Sexuelle Gewalt bedeutet, dass jemand in den intimsten, innersten Raum eines anderen Menschen eindringt und damit seine Würde, seine Identität beschädigt. Ich zum Beispiel war jahrzehntelang nicht fähig, auf Augenhöhe mit anderen zu sein, ich habe meist aus dem Gefühl heraus agiert, ich sei minderwertig. Scham ist auch ein großes Thema von missbrauchten Menschen. Viele haben zudem das Gefühl, in sich selbst fremd zu sein, und erleben sich permanent als überfordert.

Kann an einem Wochenende schon erste Heilung gelingen?
Ja. Wenn Menschen in die Klarheit kommen zu sagen: ICH war das Opfer, nicht der Täter oder die Täterin! Denn viele suchen auch Schuld bei sich selbst. Ein zweiter wichtiger Schritt ist, damit ernst genommen zu werden. In Weitenhagen gab es viele Tränen, aber das ist in einem solchen Rahmen auch heilsam. Gleichzeitig war Hoffnung da, auch weil die Leute an mir sehen konnten: Ich bin diesen Lebensmustern, die sich aus der Missbrauchserfahrung ergeben haben, nicht mehr hilflos ausgeliefert.

Welche Auswirkungen hatte das Erlebte auf Ihre Gottesbeziehung?
Ich hatte ein ganz ambivalentes Gottesbild, Gott war für mich genauso unberechenbar wie mein Vater. Gleichzeitig hatte ich eine unglaubliche Sehnsucht nach ihm, weil ich Halt brauchte. Als ich angefangen habe, mich mit dem zu beschäftigen, was mir angetan wurde, hat sich mein Bild deutlich gewandelt. Ich bin Christus begegnet, mir ist klar geworden, dass er sich selbst in die Ohnmacht, in den Schmerz hineinbegeben hatte, das war für mich ganz wichtig. Und es gab ein Tanzwochenende, das ich als Kreative Tanztherapeutin mit meinen Nichten gemacht habe. Da hatten wir auf einmal das Gefühl, wir müssten auch Gott vergeben, weil er es zugelassen hat. Ein Stuhl mit Tuch darüber war unser Symbol für ihn. Dann haben wir unsere ganze Wut herausgelassen, ihn beschimpft, ihn angeklagt… und dabei ist etwas Merkwürdiges passiert:  Es war, als würde er sich dafür bedanken. Das hat uns tief berührt, da ist ganz viel Heilung passiert.

Was erwarten Sie von der Evangelischen Kirche, jetzt, da die Ergebnisse der Forum-Studie zu sexuellen Missbrauch in Kirche und Diakonie vorliegen?
Mir fällt es schwer, für die Landeskirche zu sprechen, denn ich bin Freikirchlerin. Aber ich wünsche mir, dass es nicht so sehr darum geht, Jagd auf die Täter und die Institutionen zu machen. Klar, Menschen, die Taten verschleiert haben, sind Mittäter, das muss benannt werden. Aber die entscheidende Frage ist für mich: Wo bleiben die Opfer? Entschädigung ist gut, Anerkennung des erlittenen Unrechts auch. Aber sie brauchen mehr. Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen versuchen nachzuempfinden, wie schlimm sexueller Missbrauch ist. Zumal die Täter meist Bezugspersonen sind, die Betroffenen also auch in einer unglaublichen Ambivalenz stecken. Ich zum Beispiel habe meinen Vater geliebt und hatte fruchtbar Angst: Wenn ich darüber rede, verliere ich ihn.

Auch für Zuhörende gibt es ein gewisses Dilemma, wenn ihnen jemand von sexuellem Missbrauch berichtet: Ein anderer wird damit beschuldigt. Und solange nichts bewiesen ist, gilt juristisch in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten…
Ja, das ist wirklich ein Dilemma. Besonders Kinder sind bei diesem Thema allerdings sehr glaubwürdig. Die meisten benennen gar nicht direkt, was passiert ist, sie umschreiben es eher und zeigen starke Symptome. Schwieriger ist, wenn Erwachsene sagen, ich habe Missbrauch in der Kindheit erlebt, denn das Gehirn kann Bilder hervorbringen, die wir für Erinnerungen halten, obwohl sie es nicht sind, „false memories“.

Trotzdem, wenn ein Mensch sagt, ich habe das erlebt, dann braucht es erstmal Parteinahme, abgekoppelt vom Täter. Dann muss es unbedingt erstmal um die Frage gehen: Was ist Dir passiert? Denn wenn man der Person sagt, vielleicht hast Du etwas überbewertet, vielleicht ist das gar nicht passiert, wirkt das verheerend! Dann wird sie nochmal traumatisiert.

Wie waren die Reaktionen, als Sie Ihre Geschichte öffentlich gemacht haben?
Meine Geschwister und andere Verwandte haben alle zu mir gestanden, das hat mich sehr unterstützt. Dass mein Vater auf Freizeiten Kinder missbraucht hatte, war damals schon bekannt. Aber auch in der eigenen Familie…

Ich habe meinen Vater dann direkt konfrontiert, ihm gesagt, was er mir angetan hat. Da war er schon dement und im Pflegeheim. Er hat furchtbar geschluchzt und nach meiner Hand gesucht.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich konnte ihm vergeben, aber mit dem Thema Vergebung muss man sehr vorsichtig sein. Ich wollte mein Leben nicht mehr abhängig machen von dem, was er mir angetan hatte, darum habe ich losgelassen. Zwei Tage später ist er gestorben.

Bei der Beerdigung wusste ich, nun würden viele ihre Lobeshymnen auf ihn anstimmen und habe gespürt, dass ich für diejenigen sprechen muss, die ihn anders erlebt haben. Ich bin mit zitternden Knien auf die Kanzel gestiegen und habe gesagt: „Es sind viele durch ihn zutiefst verletzt worden.“ Am Grab haben mich dann einige böse angesehen und gemieden. Aber viele andere haben mir sehr gedankt.

Buchtipp:
Ille Ochs arbeitet in Nordrhein-Westfalen unter anderem als Tanztherapeutin und Fachtherapeutin für Kreative Traumatherapie und hat zum Thema sexueller Missbrauch zwei Bücher geschrieben: „Im Käfig der Angst“ 2016 und „Ich bin so frei“ 2018.