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Textil-Skulpturen “genäht” aus Raum und Zeit

Franz Erhard Walther eckte an, als er Anfang der 1960er Jahre zum Studium an die Düsseldorfer Kunstakademie kam. „Künstlerkollegen wie Joseph Beuys, Gerhard Richter oder Sigmar Polke haben sich kaputtgelacht und gesagt: Jetzt sattelt der Walther auf Schneider um“, erinnert er sich. Der Grund: Walther hatte begonnen, Arbeiten aus Stoff zu fertigen. „Anfang der 60er Jahre war das gar kein künstlerisches Material“, erklärt er. Mittlerweile ist das völlig neue Verständnis von Skulptur, das Walther damals entwickelte, anerkannt und sein Werk Teil der Kunstgeschichte.

Die Bundeskunsthalle ehrt Walther deshalb zu seinem 85. Geburtstag mit einer großen Übersichtsausstellung. Unter dem Titel „Bilder im Kopf, Körper im Raum. Franz Erhard Walther“ sind bis zum 28. Juli eine repräsentative Auswahl seiner handlungsbasierten Skulpturen sowie Zeichnungen aus verschiedenen Schaffensperioden zu sehen. Außerdem wurde eigens für die Ausstellung ein Dokumentarfilm gedreht.

Franz Erhard Walther wurde am 22. Juli 1939 in Fulda geboren. Seine künstlerische Ausbildung erhielt er an der Werkkunstschule Offenbach, an der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt a.M. und bei dem Informel-Künstler Karl Otto Götz an der Kunstakademie Düsseldorf.

Das Besondere an Walthers Werk war in den 1960er Jahren nicht nur das Material Stoff. Seine Skulpturen sind unfertig und entstehen erst, wenn sie aktiviert werden. Das bedeutet, dass Betrachterinnen oder Betrachter nach Handlungsanleitung mit den Materialien umgehen, die Walther entworfen hat. Da sind zum Beispiel Stoffbahnen, die ausgebreitet und von einer bestimmten Zahl von Menschen auf eine festgelegte Art gehalten, gespannt oder betreten werden. Die Akteurinnen und Akteure schlüpfen in klobige Mäntel, ziehen sich Säcke über den Kopf oder steigen in eine Art Stoffrad. Erst durch die Aktivierung entsteht die Form der Skulpturen. Ihre Bedeutung erhalten sie, indem Menschen mit ihrer Hilfe Erfahrungen machen und neue Perspektiven einnehmen.

Walther entwickelte sein Verständnis von Skulptur in der Nachkriegszeit unter dem Eindruck der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Rund um die Düsseldorfer Kunstakademie suchten in den 1960er Jahren viele Künstler nach historisch unbelasteten Ausdrucksformen, die immun gegen ideologische Vereinnahmung waren. „Ich möchte aus der klassischen Kunstgeschichte austreten“, schrieb Walther nach eigenen Worten 1962 in sein Tagebuch. „Dazu brauchte ich ein Material und eine Technik, die historisch unverbraucht waren.“

Er begann zunächst damit, Formen mit Stoff zu bekleben. Doch das sei noch zu nah an der künstlerischen Technik der Collage gewesen, sagt der Künstler. Die zündende Idee sei ihm bei einem Besuch in der Schneiderwerkstatt der Familie einer späteren ersten Frau, Johanna Frieß, gekommen. Dort sah er auf dem Werktisch Glanzkissen zum Ausbügeln von Schulterpartien liegen. So sei die Idee entstanden, Formen nicht mehr mit Stoff zu umkleben, sondern nähen zu lassen. „Es war ein euphorisches Gefühl, diese Entdeckung gemacht zu haben.“ Walthers Arbeiten werden bis heute von seiner ersten Frau, einer Bekleidungstechnikerin, hergestellt.

In den 1960er Jahren sei er mit seiner Arbeit jedoch in Deutschland und auch im benachbarten Ausland nicht ernst genommen worden, sagt Walther. Dass er Zeit und Raum wie bildhauerisches Material verwendet habe, sei auf Unverständnis gestoßen. Erst der Umweg über New York, wohin er 1967 umzog, verschaffte ihm auch in Deutschland Anerkennung. 1971 erhält er eine Professur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, wo er bis 2005 lehrt. 1972 war er mit seiner Werkgruppe „Schreitbahnen“ erstmals auf der documenta in Kassel vertreten. Gekrönt wurde seine künstlerische Laufbahn 2017 mit dem Goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig, der Auszeichnung als bester Künstler.

Die Bonner Ausstellung präsentiert zahlreiche bekannte Arbeiten des Künstlers. Sie bietet dem Publikum aber auf einer großen Aktivierungsfläche auch die Möglichkeit, Walthers Skulpturen am eigenen Leib zu erfahren. Dort liegen seine aufgerollten Stoffbahnen, Mäntel oder Säcke in den von ihm bevorzugten Gelb-, Orange- oder Brauntönen bereit. Auf Karten erhalten Besucherinnen und Besucher genaue Anleitungen, wie sie die Stoff-Skulpturen aktivieren sollen.

Darunter sind Kopien der Arbeiten aus Walthers 1963 bis 1969 entstandenen „Ersten Werksatz“, mit dem ihm der Durchbruch gelang. Da ist etwa „Über Arm“, eine meterlange Stoffbahn, an deren beiden Enden sich Akteure mit ausgestrecktem Arm auf den Bauch legen sollen. „Kurz vor Dämmerung“ besteht aus zwei Stoffstreifen, die in neun Segmente geteilt sind. In jede Öffnung steigt ein Mensch hinein, so dass alle Teilnehmer hintereinander gehen müssen.

Das Publikum der Ausstellung kann das Aktivieren der Skulpturen auch aus der Vogelperspektive betrachten. Die Aktivierungsfläche wird von Emporen eingerahmt, die sich über eine Treppe oder einen Aufzug erreichen lassen.

Der eigens für die Ausstellung gedrehte Dokumentarfilm zeigt die Aktivierung einiger präsentierter Arbeiten teilweise aus Vogelperspektive in der Landschaft der Rhön, Walthers Heimatregion. Da bilden etwa vier Menschen mithilfe einer Stoffbahn und ihres Körpergewichts ein Quadrat. Mit Nesselstoff bespannte, mannshohe Boxen stehen in der Landschaft und werden von den Akteuren betreten.