Teezeit

Der Abend des 16. Dezember 1773 hat sich schon über den Hafen von Boston gesenkt, da stürmen fünf, sechs Dutzend Bostoner Bürger auf drei Schiffe, die im Hafen liegen. Sie sind als Angehörige des Mohawk-Volks verkleidet: mit Ruß oder Kohlestaub bemalte Gesichter, Federn an den Hüten, Decken um die Schultern geschlungen. Sie werfen Kisten von Bord der Segler ins Wasser, insgesamt 45 Tonnen Tee der britischen East India Company darin. Einige Menschen stehen am Ufer, klatschen Beifall.

„Die Vernichtung des Tees ist eine so kühne, entschlossene, furchtlose und kompromisslose Tat, und sie wird notwendigerweise so wichtige und dauerhafte Konsequenzen haben, dass ich sie als epochemachendes Ereignis betrachten muss“, schreibt tags darauf John Adams, der später erster Vizepräsident und zweiter Präsident der neu gegründeten USA werden sollte. Adams behält Recht.

Die Teezeit im Bostoner Hafen geht als Boston Tea Party und Widerstandsaktion gegen Großbritannien in die Geschichte ein. Sie ist eine der Wegmarken bei der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika. Drei Jahre später, 1776, erklärten 13 britische Kolonien ihre Unabhängigkeit. Wobei die Historikerin Charlotte Lerg von der Ludwig-Maximilians-Universität München präzisiert: „Der Wendepunkt war weniger die Tea Party selbst als vielmehr die britische Reaktion darauf.“

Rückblick: Zehn Jahre zuvor war der Siebenjährige Krieg (1756-1763) zu Ende gegangen, bei dem Frankreich in den britisch-amerikanischen Kolonien auch indigene Hilfstruppen gegen die Briten eingesetzt hatte. Großbritannien verlegte Soldaten nach Nordamerika. Geld für deren Unterhalt, aber auch für die Sanierung des durch den Krieg gebeutelten Haushalts sollte nach Absicht von Regierung und Parlament von den Kolonisten kommen. Großbritannien wollte also vom bloßen Handels- zu einem Verwaltungsimperialismus übergehen. Direkte Steuern gab es in den Kolonien bis dahin nicht.

Ab 1764 beschloss das Mutterland eine Reihe von Steuern, Gebühren und Zöllen – unter anderem auf Tee, ein in den Kolonien beliebtes Getränk. Die Kolonisten reagierten wütend. Sie wollten nur zahlen, wenn sie dafür im Parlament angemessen repräsentiert seien, ließen sie die Krone wissen: „No taxation without representation“, keine Besteuerung ohne politische Repräsentation.

Der Knackpunkt war die Frage, was eine angemessene Repräsentation sei. Es gab im britischen Kabinett einen Kolonialsekretär, der freilich nicht gewählt, sondern ernannt war. „Eine solche Art der Repräsentation war damals nicht ungewöhnlich, auch für England selbst nicht“, erläutert die Münchner Historikerin Lerg. „Es ging eher darum, dass man sich selbst verwalten und der eigenen Verwaltung mehr Rechte zuordnen wollte.“

Als Anfang 1773 die Handelsgesellschaft East India Company in finanzielle Schieflage geriet, wollte London die Gesellschaft stützen. Im Tea Act befreite das Parlament sie vom Teezoll. Die Gesellschaft konnte nun in Nordamerika Tee viel billiger anbieten, was das Geschäft einheimischer Teehändler zerstörte – daher der Sturm auf die Schiffe durch Bostoner Bürger vom 16. Dezember 1773. Dabei ging es also gar nicht um Unabhängigkeit von der Krone. „Es ging ums Geld, es ging ums Geschäft“, erklärt der Historiker Konrad Linke von der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Bald nach der Boston Tea Party wurde eine Unabhängigkeit aber sehr wohl Thema. Denn die britische Regierung griff hart durch, sandte Truppen und verhängte Sanktionen. Diese Reaktion habe den Widerstandswillen der Kolonisten angestachelt, erklärt die Forscherin Lerg: „Die Briten haben lange unterschätzt, wie wirkmächtig die Kolonisten waren.“

Sie reagierten mit kolonieübergreifenden Versammlungen – den Kolonialkongressen – und beschlossen die Mobilisierung von Milizen. Am 4. Juli 1776 nahm der Zweite Kontinentalkongress die von Thomas Jefferson ausgearbeitete Unabhängigkeitserklärung an.

Im öffentlichen Bewusstsein in den USA spielt die Boston Tea Party bis heute eine große Rolle. Sie sei „ein ikonischer, identitätstiftender Moment“ gewesen, sagt Lerg: „Es hat schon seinen Reiz, das als einen Moment der Stärke gegen einen übermächtigen Gegner zu erzählen.“ Welche Wirkmacht die Tea Party bis heute entfaltet, ist daran zu erkennen, dass sich eine prominente rechtspopulistische Protestbewegung Tea Party Movement nannte. Sie wandte sich gegen aus ihrer Sicht zu hohe Steuern und behauptete eine Übergriffigkeit des Staats.

Unklar sind bis heute übrigens die Gründe für die Verkleidungen als Mohawk während der Boston Tea Party. „Warum man sich da so verkleidet hat, ist offen für Interpretationen“, sagt der Jenaer Historiker Linke. Denn die Verkleidungen waren ja ziemlich rudimentär. „Es war allen völlig klar, dass das keine Indigenen waren“, erklärt der Forscher. Möglicherweise, vermutet er, sei der Mummenschanz ein Ausdruck dafür gewesen, dass man sich mit einer Opfergruppe – wie eben den Indigenen – habe identifizieren wollen, selbstverständlich ohne die eigene unrühmliche Rolle bei deren Unterdrückung zu hinterfragen.