Tausende marschieren für LGTBQ und die Freilassung von Geiseln

Geiseln und Schwule auf demselben Banner: Mit dem Motto “Geboren, um frei zu sein” einten die Jerusalemer LGTBQ-Gemeinde und die Geiselfamilien am späten Donnerstag ihre Kräfte. Gemeinsam forderten sie: Freiheit für alle.

Schwarz-weiß in der Optik und im Denken: So sehen viele Israelis das religiöse Jerusalem. Erzkonservative Fromme, die die Deutungshoheit über das gesellschaftliche Leben fordern. Für ein paar Stunden durchbrachen am Donnerstag Menschen in allen Farben des Spektrums dieses Bild. 10.000 Menschen kamen nach Veranstalterangaben, um für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Queers (LGBTQ), aber auch die Freilassung der Hamas-Geiseln durch die Straßen der Stadt zu ziehen. Der andauernde Krieg in Gaza warf dabei seinen Schatten auf die Parade.

Eine Farbe des LGTBQ-Regenbogens war besonders präsent: gelb, die Farbe der Solidarität mit den verschleppten Geiseln der Hamas. Die gelbe Schleife auf Regenbogenfahnen, auf dem Davidsstern und als Ergänzung des Löwen, des Stadtsymbols von Jerusalem. Das Einlassbändchen: gelb; ebenso viele Gewandungen und Plakate. Das Gelb im Regenbogen stand an diesem Tag für eine gemeinsame Forderung: Freiheit für die Geiseln und für jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Neigung.

“Born to be free” – geboren, um frei zu sein – lautete das Motto der 22. Ausgabe der Jerusalemer Gay Parade. Diesmal einten die LGTBQ-Organisation Open House und das Forum der Geisel- und Vermisstenfamilien ihre Kräfte. “Es geht uns um die gleichen Werte”, erklärte Jehudit. Sie gehört sowohl dem Forum der Geiselfamilien als auch der Jerusalemer LGTBQ-Community an. Ein Protest gegen die Jerusalemer Pride wäre für sie genauso undenkbar gewesen, wie den Marsch unverändert durchzuführen.

Schwer zu feiern und schwer, es nicht zu tun: Diese Spannung war spürbar. Gedämpfte ruhige Musik am Sammelpunkt im Glockenpark; bis auf ein paar Trommler keine Musik entlang des Weges. Nur als Israels Minister für nationale Sicherheit, der rechtsradikale Itamar Ben-Gvir (Jüdische Stärke) der kleinen homophoben Gegenveranstaltung einen Besuch abstattete, kochte es kurz auf. “Schande”, skandierte die bunte Menge, während ein Großaufgebot von Sicherheitskräften Ben-Gvir zu Aktivisten der rechten Organisation Lehava geleitete. Statt gelben Schleifen war dort die geballte Faust, das Symbol der als rassistisch und antidemokratisch verbotenen Kach-Partei, auf den Fahnen.

Homophobie und Antisemitismus auf eine Stufe stellte Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid). Die Haltung, “Menschen nicht für das zu hassen, was sie getan haben, sondern für das, was sie sind”, gehöre bekämpft – ob beim Schwulen- oder Judenhass, sagte er zum Auftakt. Bei dem Umzug gehe es auch um die Frage, “welches Land mit welchen Werten wir hier wollen”. Das sei ein unumgänglicher Kampf, denn: “Keine Gruppe hat jemals ihre Rechte ohne Kampf erlangt – nicht Frauen, nicht Schwarze, nicht Juden und nicht queere Menschen.”

“Die Jerusalem Pride ist nie Party, sondern immer eine Demonstration”, sagte Jack, der mit dem Fan-Klub des Jerusalemer Fußballvereins Hapoel gekommen ist. Hapoel-Fan Hersch Goldberg-Polin gehört zu jenen Jerusalemern, die von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden. Seinen richtigen Namen mochte Jack nicht nennen. Als Staatsbediensteter dürfte er eigentlich nicht hier sein. “Die Pride ist eine Demonstration für das Recht eines jeden und einer jeden, zu sein, wer er ist, und zu lieben, wen sie will”, so der Mittzwanziger. Provokationen aus der Community sehe man bei diesem LGTBQ-Umzug nicht.

Tatsächlich zeigten die Teilnehmenden in einer Altersspanne von Kindern bis Großeltern vergleichsweise wenig Haut. Provokant-kreative Kostüme, Markenzeichen vieler Gay Paraden, fehlten fast gänzlich. Man sah sogar eine Kippa in Regenbogenfarben auf dem ein oder anderen Kopf.

Gleich mehrere Rabbinerinnen und Rabbiner ergriffen das Wort, sprachen Segen und das jüdische “Gebet des Weges” und predigten eine bessere Zukunft für die Stadt und ihre Bewohner herbei. “Heute hier zu stehen, ist eine religiöse Pflicht”, sagte die Rabbinerin Tamar Elad Applebaum. Das Marschieren für die Freiheit sei seit dem “ersten großen Marsch in der Geschichte”, dem Auszug aus Ägypten, ein Akt der Unabhängigkeit.

Unter diesem Banner zogen sie durch die Straßen. “Jetzt” und “alle” waren die Worte, die entlang des Weges dominierten. Jetzt müssten die Geiseln nach Hause geholt werden, alle; und jetzt sei die Zeit für gleiche Rechte auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit, für alle. Wie drängend diese Forderungen sind, zeigte nicht zuletzt ein Treffen des nationalen Sicherheitsberaters von Ministerpräsident Netanjahu, Tzachi Hanegbi, mit Vertretern der Geiselfamilien am Donnerstagabend. Derzeit, so Hanegbi zu den Familien, sei Israels Regierung zu keinem Deal bereit, bei dem sie für die Freilassung aller Geiseln den Krieg gegen die Hamas beende.

Bei den Familien sorgte Hanegbi für scharfe Kritik – und für einen klaren Aufruf an die Öffentlichkeit: “Steht auf, befreit euch und steht mit uns im Kampf um die Seele der Nation.”