Tagung richtet Fokus auf Gaffen bei Unfällen

Bei einem Unfall auf der Straße passiert es schnell, dass Passanten zusehen oder ihr Handy zücken und Bilder machen. Eine Untersuchung zeigt jetzt: Das Problem ist offenbar weniger verbreitet, als es oft den Anschein hat.

Ein Unfall auf einer Bundesstraße. Zwei Autos sind ineinandergecrasht, mittendrin schwer verletzte Personen. Der Rettungsdienst ist auf dem Weg, aber – er kommt nicht durch. Denn um den Unfall herum hat sich eine Menschenmenge gebildet und behindert die Durchfahrt. Schaulustige haben ihre Handys herausgeholt, fotografieren und filmen das Unglück.

Solche Situationen ereignen sich immer wieder. 2021 rief die Johanniter Unfallhilfe die Kampagne „Gaffen tötet“ ins Leben: Auf Rettungsfahrzeugen in ganz Deutschland wurden großflächig QR-Codes angebracht. Richteten Schaulustige ihr Smartphone auf das Geschehen am Unfallort und fingen den Code mit ein, wurde ihnen automatisch der Warnhinweis „Gaffen tötet!“ angezeigt. Über 60.000 Mal wurde die dazugehörige Website zwischen Oktober 2021 und Dezember 2022 aufgerufen.

Durch „Gaffen“ bei Rettungseinsätzen geht nicht nur eine Gefahr für andere aus. Auch dem Zuschauenden droht physisch und psychische Gefahr. Ein Experten-Symposium an der Berliner Akkon Hochschule für Humanwissenschaften befasste sich jetzt mit dem Phänomen.

Eine umfangreiche empirische Untersuchung begleitet die Johanniter-Kampagne und versucht, die Größenordnung des Problems festzustellen. Dabei kam heraus: Sechs von zehn befragten Rettungskräften berichteten, das Gaffer-Problem sei aus ihrer Sicht größer geworden. Doch was bedeutet größer? Vor allem, so hätten die Rettenden bestätigt, habe sich durch die Präsenz von Smartphones die Qualität der Störungen verändert, erklärt Marisa Przyrembel, Professorin für klinische Psychologie und Leiterin der Studie.

281 Rettungsprotokolle ergaben demnach: Durchschnittlich waren bei einem Einsatz ein bis fünf Schaulustige anwesend. Die meisten Zuschauenden waren es bei psychiatrischen Notfällen. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein differenzierteres Bild: Zwar gaben die Teams gaben an, „eher häufig“ Zuschauende zu erleben, jedoch „eher selten“ Filmende und „sehr selten“ Störungen. In 90 Prozent der Einsätze mit Zuschauenden gebe es keine Störungen, so die Rettungskräfte.

Die Relevanz der Kampagne schmälert das jedoch nicht: „Entscheidend sind nicht die Zahlen der Zuschauenden. Sondern, dass darüber gesprochen wird“, sagt Studienleiterin Przyrembel. „Denn in jedem einzelnen Fall kann es wirklich Leben kosten.“ Die Zahlen zeigten auch: Es ist kein Massenphänomen. Aber wenn jemand störe, habe es einen massiv negativen Einfluss.

Früher seien Bilder von Krieg oder Unfällen das Motiv professioneller Fotografen gewesen, erklärt Kommunikationswissenschaftlerin Maria Schreiber. Durch Smartphones und Soziale Netzwerke sei inzwischen jedes noch so kleine Ereignis „fotografierenswert“ geworden – auch immer intimere Momente würden öffentlich geteilt. Die Wissenschaftlerin nennt es eine „Theatralisierung des Alltags“. Doch daneben ginge es für Personen, die etwa Bilder eines Unfalls teilten, auch um ein „Gefühlsmanagement“ zur eigen Stressbewältigung in der Situation.

Ob das „Gaffen“ mit den Mitteln des Strafrechts effektiv bekämpft werden kann, bezweifelt der Jurist Lucian Krawczyk. Seit 2021 kann laut Strafgesetzbuch das Fotografieren oder Filmen von hilflosen, verletzten oder toten Personen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden. Ebenso steht eine Behinderung von Rettungskräften unter Strafe. Krawczyk zufolge gab es jedoch nur relativ wenige Gerichtsverfahren deswegen.

„So ein dramatisches großes Problem, wie es scheint, ist es nicht“, bestätigt auch Harald Karutz, Professor für Psychosoziales Krisenmanagement. „Da wird auch medial was hochgekocht.“ Fast täglich gebe es Medienberichte über „Gaffer“ und „Behinderungen“ von Rettungsarbeiten – so entstehe der Eindruck, als wären Gaffer ein neues Phänomen und ständiger Begleiter bei nahezu jedem Einsatz. Aber: Bei rund 14 Millionen Notfalleinsätzen in Deutschland pro Jahr seien Gaffer eher selten ein Problem.

Karutz empfiehlt Rettungskräften, Zuschauer hinzunehmen, zu ignorieren und in extremen Fällen natürlich zu sanktionieren. Insgesamt plädiert er aber auch für Verständnis und Gelassenheit. „Empörung und Bashing helfen niemandem.“