Tänzerin zwischen zwei Welten
Janine Grellscheid ist eine Wandlerin zwischen zwei Welten. Die 46-jährige Tanzdozentin und Choreografin an der Staatsoper Stuttgart ist ein sogenanntes „Coda“, ein Kind gehörloser Eltern (child of deaf adults). Für sie sind der stille Kosmos ihres Elternhauses und die Klangwelt der Oper allerdings keine Widersprüche. „In beiden Rollen muss ich vermitteln und viel erklären“, sagt sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Janine Grellscheid ist in Tamm bei Ludwigsburg bilingual aufgewachsen. Zuerst konnte sie die Gebärdensprache. Denn Janines Eltern Günter und Steffi sind gehörlos – die Mutter von Geburt an, der Vater nach einer Hirnhautentzündung im Alter von acht Monaten. In der Deutschen Gebärdensprache kommuniziert man mit Gesicht, Händen, Oberkörper und Armen. Seit 2002 ist sie offiziell als eigenständige Sprache anerkannt.
Nach Schätzungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes sind rund 80.000 Menschen in Deutschland gehörlos. Hinzu kämen rund 16 Millionen Schwerhörige, von denen etwa 140.000 auf Gebärdensprache angewiesen sind. Genaue Statistiken gibt es nicht – auch nicht darüber, wie viele Kinder gehörloser Eltern (Codas) hierzulande leben.
Richtig sprechen gelernt hat Janine erst mit zwei Jahren – bei ihren Großeltern und im Kindergarten. Sie musste früh Verantwortung übernehmen innerhalb der Familie, begleitete ihre Eltern etwa bei Behördengängen, zu Ärzten und in die Autowerkstatt. „In den meisten Einrichtungen gibt es bis heute zu wenig Menschen mit Gebärdensprachkenntnissen“, bedauert Grellscheid.
Ihre Liebe zur Musik und zum Tanz entdeckte sie bereits mit zwei Jahren. „Sie saß vor dem Fernseher und schaute sich Tschaikowskys Nussknacker an“, erzählt Mutter Steffi in Gebärdensprache. „Fortan erklärte sie uns nahezu täglich: Ich will nicht in den Kindergarten, ich möchte zum Ballett.“ Schließlich gaben die Eltern nach – und verpassten in den Jahren darauf nicht eine einzige Aufführung.
„Sie kamen wirklich immer, obwohl sie ja nichts hörten“, erinnert sich Janine Grellscheid. Viele Auftritte hat Vater Günter auf Super-8-Kamera festgehalten. Die Opern-Choreografin erinnert sich gern an ihre Kindheit. Nur manchmal habe sie nach Besuchen bei Freunden gedacht, es wäre schön, wenn auch sie sich mit ihren Eltern ohne Gebärden direkt unterhalten könnte. Denn die Gebärdensprache sei nicht so nuancenreich wie die Lautsprache.
Manchmal habe es aber auch Vorteile gehabt, dass ihre Eltern nicht hören, erzählt sie lachend. Damit ihre Eltern mitbekommen, wenn es an der Tür klingelt, sind in der elterlichen Wohnung sämtliche Zimmer mit einer speziellen Lampe ausgestattet, die dann zu blinken beginnt. „Wenn ich mich später am Abend mit Freunden verabreden wollte, habe ich einfach in allen Zimmern die Glühbirnen dieser Lampen locker gedreht, sodass meine Eltern nicht merkten, wenn es klingelte“, berichtet sie.
Im Teenager-Alter sei die elterliche Wohnung auch ein beliebter Treffpunkt vor oder nach Partys gewesen: „Wir konnten uns in die Küche setzen, eine Pizza in den Ofen schieben und uns ganz normal in Zimmerlautstärke unterhalten – auch wenn meine Eltern längst schliefen. Da sie uns nicht hörten, störten wir sie auch nicht.“
Nach dem Abitur entschied sich die junge Frau, Musik und Bewegung zu ihrem Beruf zu machen. Sie spricht von Berufung. An der renommierten Kunsthochschule Amsterdam ließ sie sich als Dozentin für Theatertanz ausbilden. Auftritte führten sie durch nahezu ganz Europa. Seit 2021 ist sie als Choreografin und Bewegungscoach an der Staatsoper Stuttgart beschäftigt.
Für sie ist damit ein Traum in Erfüllung gegangen: „So wie ich aufgewachsen bin, darf ich jetzt beruflich tätig sein, nämlich auf der Bühne stehen, mich bewegen und viel gestikulieren.“ Und ihre Eltern unterstützen sie bis heute dabei, etwa wenn Vater Günter filmt oder Mutter Steffi Kostüme schneidert. (2117/20.09.2024)