Stefanie Stahl: Sich nicht mit der Psyche zu befassen, wäre dumm

In drei Schritten zu einem besseren Leben? Stefanie Stahl ist davon überzeugt, dass gezielte Selbstwahrnehmung die Menschen glücklicher macht. Ihr neues Buch bietet dafür eine konkrete Anleitung.

Sie gilt als Deutschlands bekannteste Psychologin, ihre Bücher landen regelmäßig auf der Bestseller-Liste. Soeben ist “Wer wir sind – Das Arbeitsbuch” von Stefanie Stahl erschienen. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die Autorin und Podcasterin über gesellschaftlichen Wandel, Gegenstimmen zu ihrer Arbeit und die Neugier auf sich selbst.

KNA: Frau Stahl, in Ihren Büchern machen Sie Mut, belastende Themen anzugehen. Wie kann der erste Schritt gelingen, der ja oft der schwerste ist?

Stefanie Stahl: Wenn der erste Schritt so schwer ist, dann hat das häufig mit Angst davor zu tun, mit gewissen Gefühlen und Erinnerungen in Berührung zu kommen. Man versucht, sie von sich fernzuhalten. Allerdings sind sie ohnehin da – und es kostet letztlich viel mehr Lebensenergie, sie permanent zu verdrängen. Wenn man den Geist einmal aus der Flasche lässt und sich mit ihm auseinandersetzt, kann man sich hingegen dauerhaft befreien.

KNA: In Ihrem neuen Buch stellen Sie Bezüge her zwischen dem Wohlergehen des Einzelnen und der gesamten Gesellschaft, etwa beim Umgang mit Wut. In welchem Wechselverhältnis steht beides?

Stahl: In einem sehr engen Verhältnis. Wie ich mich verhalte, hat immer Auswirkungen auf andere Menschen. Wenn ich also viele unverarbeitete Gefühle in mir herumliegen habe, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das negativ auf meine Mitmenschen auswirkt, relativ hoch. Beispielsweise reagiere ich auf Kleinigkeiten aggressiv oder schotte mich ab, weil ich versuche, unverletzt durchs Leben zu gehen. Heute haben viele Menschen kein sehr stabiles Selbstwertgefühl, sondern leiden an Unterlegenheitsgefühlen. Wenn Betroffene andere nicht an sich heranlassen, nehmen diese an ihnen schnell eine gewisse Dominanz und Feindseligkeit wahr, die vielleicht gar nicht vorhanden ist.

Das heißt: Was ich wahrnehme und wie ich andere Menschen wahrnehme, hängt mit meinem Selbstbild zusammen. Je klarer die Zusammenhänge sind, je sortierter und reflektierter ich bin, desto weniger laufe ich Gefahr, anderen Menschen zu schaden. Diese Mechanismen laufen beim Nachbarschaftsstreit ähnlich wie zwischen verschiedenen Staaten.

KNA: Apropos Staaten – stößt die Selbsthilfe nicht an Grenzen, wenn es etwa um Kriege geht?

Stahl: Natürlich. Schwere Schicksalsschläge – dazu gehören Krieg und Vertreibung – kommen von außen und lassen sich kaum kontrollieren. Grundsätzlich kann ich es mir mit meiner eigenen Einstellung aber leichter oder auch schwerer machen: Viele Probleme, die wir haben, sind hausgemacht, was etwa die Beziehungen zu unseren Mitmenschen angeht. Viele Probleme verursachen wir selbst, wenn auch nicht absichtlich, und daran können wir eine ganze Menge ändern.

KNA: Einer Ihrer Tipps lautet: “Mach, was Dir Spaß macht”. Leben wir nicht ohnehin in der “Spaßgesellschaft”?

Stahl: Freude ist ein Lebenselixier; die Möglichkeit, Freude zu empfinden, gibt dem Leben einen Wert. Freude tankt die eigenen Speicher auf – und wenn wir uns wohlfühlen, können wir liebevoller mit anderen umgehen. Wer gestresst ist, ist schneller gereizt und aggressiv. Insofern ist es wichtig, dass das Leben einem Freude bereitet.

KNA: Die Suche nach sich selbst ist ein altes Thema. Warum treibt sie heute besonders viele Menschen um?

Stahl: Weil wir uns als Gesellschaft enorm nach vorne entwickelt haben. Oft vergessen wir, wie die soziale Gesetzgebung noch vor 100 Jahren aussah, wie wenig Rechte die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten, wie weit zurück Emanzipation, Erziehung und Toleranz waren. All das hat sich sehr positiv entwickelt. Die Psyche umfasst unsere Gefühle, unser Denken, unser Verhalten – die Psyche sind wir. Sich nicht damit zu beschäftigen, wäre geradezu dumm. Es geht darum, zu verstehen, wie man selbst funktioniert, wo Baustellen und Herausforderungen liegen. Wäre dieses Thema von Anfang der Menschheit an so im Fokus gewesen wie heute, dann hätten wir eine völlig andere Welt.

KNA: Manche Beobachter sehen einen “therapeutisierten” Lebensstil mit Skepsis. Das Buch “Leben geht nur vorwärts” von der Psychologin Gitta Jacob wirbt etwa dafür, “das innere Kind in Ruhe zu lassen”. Wie sehen Sie das?

Stahl: Das ist ein Missverständnis. Ein selbstreflektierter Menschen ist eher wenig mit sich selbst beschäftigt, weil er einfach nicht so viele Baustellen hat. Menschen sind dann am meisten mit sich selbst beschäftigt, wenn sie ein Problem haben – ob sie nun davor davonlaufen oder sich damit auseinandersetzen. Wenn ich aber weiß: So und so bin ich aufgestellt, dieses und jenes hat mich geprägt, in dem und dem Bereich muss ich aufpassen – dann ist schon alles getan. Persönliche Weiterentwicklung sehe ich als lebenslanges Ziel.

KNA: Wer also merkt, irgendwo läuft es unrund, sollte genauer hinschauen?

Stahl: Wenn ich mich eine Zeit lang intensiver mit mir selbst beschäftige, ist das Ziel, mit mir ins Reine zu kommen. Das ist wiederum die Voraussetzung dafür, sich anderen zuwenden zu können und sich auf die Welt da draußen zu konzentrieren. Natürlich leben wir vorwärts, wie der genannte Buchtitel sagt. Aber was macht das Gehirn? Es berechnet Erwartungen, was als nächstes passieren wird – auf Grundlage der Vergangenheit. Insofern lohnt es sich sogar für Menschen aus glücklichen Verhältnissen, die kaum Sorgen haben, über sich selbst nachzudenken. Dann trifft man Entscheidungen bewusster.

KNA: Hat sich die Wahrnehmung psychischer Erkrankungen durch die Corona-Zeit verändert?

Stahl: Schon vorher sind diese Themen viel öffentlicher geworden. Ich begrüße es sehr, wenn Persönlichkeiten dazu stehen, dass sie unter Depressionen, Panikattacken oder ähnlichem leiden. Es ist einer der positiven Einflüsse von Social Media, dass Betroffene einander dort begegnen, ein Miteinander und Mitgefühl erleben. Dadurch ist die Schwelle, sich Hilfe zu suchen, viel niedriger geworden. Corona hat dazu nochmal einiges beigetragen. Das ist eine stetige Entwicklung, die man nicht mehr wird rückgängig machen können. Eines Tages wird man sich eher wundern, warum die Menschen sich nicht viel früher damit befasst haben.

KNA: Momentan fühlen sich viele Menschen stark belastet. Wann ist der Punkt erreicht, an dem man sich Hilfe suchen sollte?

Stahl: Ich würde den Korb nicht zu hoch hängen. Man fragt ja auch nicht: Wie stark müssen die Zahnschmerzen sein, bevor man zum Zahnarzt geht – lieber abwarten. Einen Ratgeber zu lesen oder einen Podcast zu hören, sich mit dem eigenen Bauplan zu beschäftigen, kostet nicht viel. Einfach mal loslegen, neugierig sein auf sich selbst. Wenn man merkt, dass einen ein größeres Thema umtreibt, sollte man rechtzeitig Hilfe suchen, etwa bei psychologischen Beratungsstellen. Bis man einen Therapieplatz bekommt, muss man sowieso lange warten.

KNA: Über das Angebot an Therapieplätzen wird debattiert. Was würden Sie sich auf politischer Ebene wünschen?

Stahl: Psychologie als Schulfach – und das möglichst früh. Es ist existenziell wichtig für die Gesellschaft. Anfangen sollte man bei den Jüngsten mit Fragen wie: Wie heißen meine Gefühle? Was kann ich machen, wenn ich traurig bin? Je älter die Kinder werden, desto differenzierter kann man die Themen behandeln.