Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will eine neue „stambulante“ Versorgung schaffen – und hat damit für reichlich Verwirrung in der Pflegebranche gesorgt. Geregelt wird der neue Ansatz laut Minister im Pflegekompetenzgesetz, das bis zum Sommer vorliegen soll. Die neue Versorgungsform werde eine Mischung aus stationärer und ambulanter Pflege, die bislang in Deutschland fehle, sagte Lauterbach. Das bestreiten Fachleute. Lauterbachs Pläne wiesen Parallelen etwa zu ambulant betreuten Wohngemeinschaften auf.
Menschen, die weder in ein Pflegeheim ziehen möchten noch in der Lage sind, alleine ohne Hilfe zu Hause zu bleiben, sollen in speziell ausgerüsteten Wohnungen rund um die Uhr betreut werden. Wenn der rechtliche Rahmen dafür geschaffen sei, könnten zum Beispiel Seniorenresidenzen solche Angebote zusammen mit Pflegediensten aufbauen, so Lauterbach.
Pflegebranche “in Aufruhr”
Der Arbeitgeberzusammenschluss Ruhrgebietskonferenz Pflege betonte, noch sei völlig unklar, wie die gesetzlichen Regelungen dazu ausfallen. Es sei jedoch Unfug zu sagen, dass ein solches Angebot in Deutschland fehle, hieß es auf Anfrage. Die Pflegebranche sei „mit einem ungelegten Ei in Aufruhr versetzt worden“.

Seit 2016 praktiziert die BeneVit Gruppe in Wyhl in Baden-Württemberg in ihrem Haus Rheinaue stambulante Pflege, hebt das tradierte Verständnis von „stationär“ und „ambulant“ auf und versucht, beide Sektoren miteinander zu verbinden. Inhaber Kaspar Pfister kämpft bisher ohne Erfolg für die Aufnahme in die Regelversorgung. Ende 2023 gab es eine erneute Verlängerung und das Projekt ging in das achte Jahr seiner Modellphase – weil es trotz positiver Evaluierung noch keine gesetzliche Verankerung gibt.
Der Träger wirbt auf seiner Homepage für ein „Mitmach-Pflegeheim“, wie es sich Bewohnende und Angehörige wünschten: „Stationäre Sicherheit, kombiniert mit ambulanter Vielfalt, bedeutet, Wahlmöglichkeiten zu haben: Unterkunft, Betreuung und Pflege können durch unterschiedliche Leistungen ergänzt werden. Daraus entsteht ein individualisiertes Betreuungspaket nach den Bedürfnissen des pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen und seiner Angehörigen.“
Experte weist Lauterbachs Vorschlag zurück
Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang wies den Vorschlag Lauterbachs zurück. Das sei „gut gemeint, aber im Ergebnis sogar gefährlich“, sagte er dem epd. Die Problemanalyse sei zwar absolut nachvollziehbar. Aber dafür mit der „stambulanten“ Pflege einen neuen Sektor zu schaffen, sei rückwärtsgewandt.
Der Forscher befürchtet eine große Zahl von Abgrenzungsproblemen, die mit Blick auf die Vergütung von Leistungen eine Flut juristischer Streitfälle auslösen könnten. „Im Moment haben wir zwischen der ambulanten und der stationären Pflege eine Grenze, an der es schon knirscht. Künftig haben wir zwei Grenzen, da wird es doppelt knirschen“, so Rothgang. Die Lösung sei eine sektorfreie Versorgung, bei der jeder Mensch wohnen könne, wie er wolle, „die Pflege kommt unabhängig von der Wohnform modular als Leistung dazu und wird nach einheitlichen Regeln abgerechnet“.
“Grenze heißt Fachkräftemangel”
Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung sagte auf Anfrage, das werde kein großer Wurf, „der die aktuellen und vor allem zukünftigen Anforderungen substanziell neu sortieren kann“. Solange man den Fokus auf Versorgung und auf professionelle Sektoren lege, werde man an einer Grenze immer scheitern: „Die heißt Fachkraftmangel, der jüngst im DAK-Pflegereport noch einmal nachdrücklich mit Zahlen untermauert wurde“, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende. „Insgesamt braucht es eine deutlichere Hinwendung zu präventiven Ansätzen und zu Ideen, die jenseits der bestehenden Sektoren der Versorgung gedacht werden können.“
Der Bundesverband „wir pflegen“ begrüßt zwar grundsätzlich alle Bemühungen, die Entlastungsangebote und Wahlmöglichkeiten für pflegebedürftige Menschen zu erweitern. „Allerdings sehen wir den Zeitpunkt und die Folgen der Umsetzung stambulanter Versorgung sehr kritisch“, sagte Sprecherin Lisa Thelen dem epd: „Der Gesundheitsminister sollte zuerst die Pflichtaufgaben erledigen, denn die häusliche und stationäre Pflege stehen unter extremem Druck.“
