Stahl-und Walzwerk Brandenburg als Industriekathedrale

Das Stahl-und Walzwerk in Brandenburg arbeitet nicht mehr, ist als Industriemuseum zugänglich. Susanne Atzenroth machte im Rahmen Ihrer Qek-Sommertour an der Industriekathedrale einen Stopp.

Helme im Regal
Helme im RegalSusanne Atzenroth

Marius Krohn ist Leiter des Industriemuseums in Brandenburg an der Havel und Mitglied im Kreiskirchenrat des Kirchenkreises Mittelmark-Brandenburg. Die Beziehung zwischen ehemaligem Stahl- und Walzwerk und der Kirche ist eines seiner persönlichen Forschungsanliegen. Susanne Atzenroth machte mit dem Museumsleiter einen Spaziergang durch das beeindruckende Industriedenkmal am Havelkanal und interviewte ihn.

Herr Krohn, der letzte Abstich fand 1993 statt, da war das Industriemuseum bereits gegründet. Wie gelang es, dieses Stück Industriegeschichte so kurz nach der politischen Wende zu bewahren?

Tatsächlich war das Verständnis nicht sehr groß. Ein Abriss hätte zu jener Zeit nähergelegen. So erging es den meisten Industriegebäuden im umliegenden Areal. Es ist vor allem ehemaligen Betriebsangehörigen zu verdanken, dass so wichtige Zeitzeugnisse erhalten blieben. Darunter das Herzstück der Anlage, einer der ehemals zwölf Siemens-Martin-Öfen.

Die große Halle hier im Museum ist überwältigend. Der Zug steht auf den Schienen, die Kräne sind bereit und Helme warten im Regal auf ihre Träger*innen. Alles scheint, als seien die Kumpel nur in der Mittagspause.

Ja, dieser Eindruck ist beabsichtigt. Wir wollen die Bedeutung, die das Stahlwerk hier in der Stadt hatte, lebendig halten. Noch oft kommen Besucher*innen, die selbst hier gearbeitet haben oder ihre Familienangehörigen. Gerade zu Zeiten als VEB Stahl- und Walzwerk Brandenburg war es nicht nur Arbeitsstätte, sondern auch Drehscheibe für das gesamte Leben, mit Betriebssport, HO-Verkaufsstellen und Kinder-Ferienlager. 1974 hatte das Werk als größter Rohstahlproduzent der DDR 8 000 Beschäftigte. Für die meisten war es gefährliche Knochenarbeit mit viel Lärm und Hitze. Produziert wurden aber nicht nur Stahl, sondern auch Haushaltsgegenstände und leider vermutlich auch der Stacheldraht für die Berliner Mauer.

Herr Krohn, sie haben DDR-Geschichte studiert und 2015 die Leitung des Museums übernommen. Kirche scheint erst einmal weit weg von Industriegeschichte zu sein. Wo begegnete Ihnen das Thema zuerst?

Auf das Thema Kirche und Arbeiter bin ich bei einer zufällig mitgehörten Führung im Berliner DDR-Museum gestoßen. Das Thema hat mich dann nicht mehr losgelassen. Viel Recherchematerial fand ich in der Betriebszeitung des Stahlwerkes. 1914 nahm das Stahlwerk seinen Betrieb auf. 1928 entstand die Christuskirche in der nahen Arbeitersiedlung. Wer baute sie? Für das neue Stahlwerk waren viele Fachkräfte gefragt, die vor allem aus den traditionellen Stahlbauregionen zuzogen. In den 1920er Jahren entstand die Walzwerksiedlung und damit der Wunsch nach einer eigenen Kirche. Dass der Bau schließlich möglich wurde, ist den Frauen der Arbeiter zu verdanken.

Marius Krohn im Industriemuseum Brandenburg
Marius Krohn im Industriemuseum BrandenburgSusanne Atzenroth

Sie legten den finanziellen Grundstein mit dem Verkauf von Kuchen und Handarbeiten. Das Stahlwerk stellte den Bauplatz zur Verfügung. Die engagierten Architekten Otto Bartning und Theo Kellner hätten sicher lieber ein imposanteres Gebäude gebaut. Finanziert werden konnte am Ende ein schlichter Bau mit Gemeindezentrum und Kindergarten. Bis in die 1950er Jahre hinein wurde dort in mehreren Durchgängen konfirmiert.

Christuskirche Brandenburg
Christuskirche BrandenburgSusanne Atzenroth

Erst nach dem Mauerbau gingen die Zahlen richtig herunter. Heute ist die Christuskirche Teil der Brandenburger St.-Gotthardt- und Christusgemeinde, der auch meine Familie und ich angehören. Übrigens gab es in der Walzwerksiedlung auch eine katholische Kirche – die inzwischen entwidmet ist. Sie wurde von einer evangelikalen Freikirche zu einem Gemeindezentrum umgenutzt wurde.

Wie ist Ihr eigener Bezug zur Kirche?

Ich habe erst als Jugendlicher entschieden, mich taufen zu lassen. Seit 2011 bin ich Mitglied im Kreiskirchenrat, meine Frau im Gemeindekirchenrat hier in Brandenburg. Wir haben in der hiesigen Christuskirche geheiratet und eines unserer beiden Kinder wurde dort getauft.

Gerade erst wurde der Jahrestag des 17. Juni begangen. Ein Tag, der auch in Brandenburg viele Menschen auf die Straße brachte. Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Kirche?

Im Vorfeld des 17. Juni wurde vonseiten der Partei richtig Front gegen die Kirche gemacht. So ordnete man über 50 Jugendliche der Jungen Gemeinde zu und warf sie von der Oberschule. Die Evangelische Junge Gemeinde galt der SED als „Tarnorganisation für Kriegshetze und Terrorismus“. Dabei waren unter den Betroffenen nicht nur Bürger-, sondern auch Arbeiterkinder. Mitglieder der FDJ denunzierten in der Betriebszeitung des Stahlwerkes einen örtlichen Pfarrer, er würde seine Konfirmanden verprügeln. Ein anderer wurde angezählt, weil er nicht wählen gegangen sei. Darüber hinaus herrschte in vielen Bereichen große Willkür, so entzog man Gewerbetreibenden unter fadenscheinigen Argumenten die Lebensmittelkarten. Gleichzeitig wurden in den Volkseigenen Betrieben die Arbeitsnormen erhöht und das Schichtgehalt gekürzt. Das führte zu großer Unzufriedenheit und schließlich zum Aufstand. Dann kamen die sowjetischen Panzer. Wie ging es hinterher weiter? Nachher drehte die Propaganda alles um. Plötzlich durften die 50 Jugendlichen wieder in die Schule zurück und es wurde so dargestellt, als ob im „roten Stahlwerk“ nicht demonstriert worden wäre – was nicht stimmte. Aus meiner Sicht war der 17. Juni ein Volksaufstand. 15 000 Menschen waren hier auf der Straße. Danach war das Vertrauen der Bevölkerung erschüttert und das Ende der DDR eigentlich besiegelt.

Wo findet sich das Thema Kirche hier im Industriemuseum wieder?

Dass das Thema „Stahlwerk und Kirche“ auf Interesse stößt, merke ich immer wieder in Gesprächsrunden und Vorträgen. Bisher gibt es im Industriemuseum keinen eigenen Bereich dazu. Doch ich würde die Ausstellung gern um ein Dauermodul zur Walzwerksiedlung erweitern. Darin hätte auch die Geschichte der Christuskirche ihren Platz. Im Museum finden außerdem immer wieder Gottesdienste statt – während der Coronazeit sogar samt Orgel aus der Christuskirche – und die katholische Arbeiterbewegung kam am Vorabend des St. Josefstages zu einer Eucharistiefeier zusammen. Im Grunde haben wir hier eine Industriekathedrale.

Herr Krohn, vielen Dank für das Interview und im Sinne der Stahlwerker: Glück auf!

Am 28. Oktober findet im Industriemuseum Brandenburg der Museums-Aktionstag „Feuer und Flamme“ statt.  Das Industriemuseum befindet sich ind er August-Sonntag-Straße 5, Brandenburg (Havel).