In meiner Arbeit begegne ich oft Menschen, die sich fragen, ob das Thema Queerness aktuell nicht etwas zu viel Raum einnimmt? Es gibt doch schließlich Wichtigeres. Stimmt, aber es gibt kaum etwas Wichtigeres als die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Und das zeigt sich insbesondere daran, wie wir mit Menschen umgehen, mit denen uns auf den ersten Blick womöglich nichts verbindet.
In der queersensiblen Bildungsarbeit geht es um Menschen, die Teil einer marginalisierten Gruppe sind. Menschen also, die diskriminiert werden, weil sie in bestimmten Aspekten ihrer Identität nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprechen. Dazu gehören nicht nur queere Menschen, sondern auch viele andere. Aber die Mechanismen sind immer dieselben.
“Stadtbild”: Merz fällt Urteil über ganze Gruppe
Friedrich Merz hat kürzlich vom Stadtbild gesprochen, das durch Menschen gestört wird, die für ihn nicht dazugehören. Aus seiner Sicht sind das Menschen mit Migrationshintergrund beziehungsweise Schwarze, Indigene und Personen of Color. Der Bundeskanzler macht diese Gruppe von Menschen verantwortlich für geschlechtsbezogene, sexualisierte Gewalt in Deutschland, obwohl diese Form der Gewalt nachweislich insbesondere als häusliche Gewalt belegt ist. Er fällt damit ein Urteil über eine ganze Gruppe von Menschen und nutzt ein fremdenfeindliches Narrativ für politische Entscheidungen.

Das, was hier passiert, ist beispielhaft für die Diskriminierung von Menschen, die Teil einer marginalisierten Gruppe sind. Und es macht deutlich, welche Funktion die Stilisierung eines Feindbildes hat. Denn sie lenkt von der eigenen Verantwortung ab und entlastet die Mehrheitsgesellschaft.
Aber ist das die Welt, in der wir leben wollen? Eine Gesellschaft, in der Menschen pauschal be- und verurteilt werden? Wir können uns auf Erzählungen berufen, die wir mal gehört haben. Urteile, die andere Menschen gefällt haben. Aber damit bestärken wir nicht nur Vorurteile, sondern verpassen möglicherweise auch neue Perspektiven. Und damit auch die Gelegenheit, uns selbst neu zu verstehen.
Wir leben alle in unserer Bubble
Im Hebräerbrief heißt es: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Diese Suche ist ein andauernder Prozess. Wie in einer Beziehung. Es ist wichtig, dass alle daran beteiligt sind, damit es eben nicht zu solchen Zuschreibungen kommt. Wir alle leben in unserer je eigenen Bubble und halten unsere Perspektive zunächst für die Einzige. Da aber jeder Mensch unter je eigenen Bedingungen heranwächst, müssen wir uns mitunter über Themen informieren, die uns bisher nicht vertraut waren. Wir können nicht alles wissen. Aber wir können lernen. Das bedeutet nicht, dass wir deshalb unser eigenes Leben über den Haufen werfen oder abwerten müssen. Aber eben auch nicht das der anderen.
Im Hebräerbrief heißt es weiter: „Bleibt fest in der geschwisterlichen Liebe. Vergesst nicht gastfreundlich zu sein; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.“
Die Frage, wie unser Stadtbild aussieht, betrifft uns alle.
Tash Hilterscheid ist die Pfarrperson für queersensible Bildungsarbeit der Nordkirche. Ab sofort schreibt Hilterscheid jeden Monat in einer Kolumne über queeres Leben.
