Soziologe: Reiche versuchen Armen aus dem Weg zu gehen

Lieber Auto statt U-Bahn fahren? Im schön sanierten Altbau wohnen statt im Plattenbau? Nach den Worten eines Forschers für soziale Ungleichheit haben reiche Menschen in Deutschland wenig Berührungspunkte mit Armen.

Menschen in wohlhabenderen Vierteln müssen nach den Worten eines Soziologen in der Regel seltener als andere eine “Integrationsleistung” erbringen. “Wenn man das ganz kritisch betrachten will, dann sind die Menschen, die in den schön sanierten Altbauten der Innenstädte wohnen, überproportional die Akademiker, die vielleicht grün wählen und der Zuwanderung eher positiv gegenüberstehen. Aus dem eigenen Stadtviertel kennen sie die aber nicht”, sagte Soziologe Marcel Helbig, Professor am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg, am Dienstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Entsprechend seien sie auch nicht diejenigen, die die Integrationsleistung zu tragen hätten. “Das sind die in den Randbezirken, zum Beispiel den Plattenbauvierteln, die der Zuwanderung vielleicht schon ohnehin kritisch gegenüberstehen.”

Auslandszuwanderung finde in einer Reihe von Städten fast ausschließlich in sozial benachteiligte Stadtviertel statt, sagte Helbig, der verschiedene Studien zum Thema geleitet hat. Grund sei der hohe Leerstand etwa in Plattenbauten von ostdeutschen Städten oder in ehemaligen Arbeitervierteln des Ruhrgebiets. Nach den Flüchtlingswellen 2015 und dem russischen Angriff auf die Ukraine sei das die einfachste politische Lösung gewesen.

Seiner Einschätzung nach haben Nachbarschaft und Wohnviertel durchaus Einfluss auf Bildungserfolge, so der Forscher weiter. “In den USA und Skandinavien gibt es viele Studien dazu. Sie zeigen etwa, dass die Bildungschancen in Quartieren niedriger sind, wo viele arme Menschen leben und dass das spätere Einkommen stark mit dem Ort des Aufwachsens zusammenhängt.”

In Deutschland dagegen seien die genauen Auswirkungen bisher nicht in der Breite erforscht – aus Datenschutzgründen. “Allerdings scheint ziemlich sicher zu sein, dass die Nachbarschaft einen gewissen Einfluss ausübt. Dass etwa das Gesundheitsverhalten von Kindern geringer ausgeprägt ist, wenn das Umfeld auch nicht darauf achtet”, so der Bildungsforscher. “In einer Klasse, in der 18 Schüler rauchen, raucht das 19. Kind bald auch, weil es denkt, das sei normal. Anders ist das auf Schulen, in denen niemand raucht.”

Vor allem in Süddeutschland gebe es mittlerweile eine zunehmend stärkere soziale Durchmischung der Viertel, sagte der Soziologe. Die Mieten und der Wohnungsmangel seien dort mittlerweile so hoch, dass Menschen mit mittleren Einkommen sich auch Wohnungen in ärmeren Vierteln suchen müssten. Dagegen seien die reicheren Viertel nach wie vor exklusiv. Auch wenn Arme und Reiche Tür an Tür lebten, fänden Besserverdienende Wege, wie man den mit Armut zusammenhängenden Problemen aus dem Weg gehen könne – indem sie ihre Kinder etwa auf Schulen in anderen Bezirken oder auf Privatschulen anmeldeten, so Helbig.