Soziologe: Evangelische Kirche steht nicht besser da als katholische

Die evangelische Kirche ist beim Thema sexualisierte Gewalt nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack mindestens ebenso betroffen wie die katholische. Hochrechnungen von Ergebnissen der am Donnerstag veröffentlichten ForuM-Studie sprächen dafür, dass sich die Zahl der beschuldigten Geistlichen im katholischen und evangelischen Bereich in etwa entsprechen, sagte Pollack dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Das heißt, die evangelische Kirche steht hier nicht besser da als die katholische.“ Allerdings seien die Studien von evangelischer und katholischer Seite nur schwer vergleichbar.

Über längere Zeit habe man das Thema wohl vor allem für ein katholisches Problem gehalten, erklärte der Seniorprofessor an der Universität Münster. Inzwischen sagten aber die Verantwortlichen in der evangelischen Kirche, sie seien erschüttert von den Fakten. Sie würden vom Versagen der Kirche sprechen und bekennen, dass sie bestürzend viel falsch gemacht haben.

Der interdisziplinäre Forschungsverbund „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen“ (ForuM) stellte am Donnerstag seine 871 Seiten umfassende Untersuchung in Hannover vor. Demnach gab es auch in der evangelischen Kirche und in Einrichtungen der Diakonie weit mehr sexualisierte Gewalt als bislang angenommen. In der Studie ist die Rede von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern. Erstellt wurde sie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Sexualisierte Gewalt werde immer wieder durch Abhängigkeitsverhältnisse begünstigt, erläuterte Pollack. Im Unterschied zur katholischen Kirche gebe es in der evangelischen Kirche wegen deren föderaler Gliederung stärker „das Problem der Verantwortungsdiffusion“. Die Folge sei, dass Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, „im evangelischen Raum oft nicht die Ansprechstelle finden, die für die Bearbeitung ihrer Probleme Verantwortung übernimmt“, sagte der Wissenschaftler.

Pollack hob hervor, dass sich die evangelische Kirche seit Jahren um die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen bemühe. Sie habe am Runden Tisch Sexueller Missbrauch mitgearbeitet, Vereinbarungen mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs getroffen und Fachstellen für den Umgang mit sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen eingerichtet.

Die Ergebnisse der Studie könnten nach Einschätzung des Religionssoziologen dazu führen, „dass viele Menschen sich zum Austritt entschließen“. Aus Befragungen sei bekannt, dass Missbrauchsfälle und der Umgang der Kirchen mit ihnen einer der wichtigsten Gründe für einen Kirchenaustritt seien.