Souveräne Ausnahmekünstlerin

2019 veröffentlichte Angela Winkler ihre Memoiren – erstaunlich kurz und ehrlich. Regisseur Robert Wilson habe ihr mal gestanden, erzählt sie darin, er liebe an ihr, dass sie bei der Arbeit nur 70 Prozent gebe. „Es stimmt“, schreibt Winkler, „ich lehne es ab, ‚perfekt’ zu sein“. Jeder Mensch müsse heute, ob er wolle oder nicht, 100 Prozent perfekt sein. Und genau das, so ihr Fazit, „will ich nicht“.

Am 22. Januar wird die Ausnahmeschauspielerin 80 Jahre alt – und steht selbst an ihrem Geburtstag auf der Bühne: im Zwei-Personen-Stück „Eurotrash“ nach dem Roman von Christian Kracht in der Berliner Schaubühne.

Winkler blickt auf eine außergewöhnliche Karriere zurück. Der Film „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1975) von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta nach der Erzählung von Heinrich Böll war ihr erster großer Erfolg. Nach den Probeaufnahmen – Böll selbst hatte Winkler für die Hauptrolle vorgeschlagen – sagte Schlöndorff: „Ihr leiser Tonfall, ihr kindlicher Ernst wirkten überzeugend. Kein Satz würde bei ihr ideologisch klingen, die Tat selbst würde nicht vorsätzlich wirken.“ Im Film erschießt sie den Skandaljournalisten einer Boulevardzeitung, der sie als Terroristenbraut diffamiert hatte. 1976 erhielt Winkler dafür den Bundesfilmpreis in Gold.

Sie kam 1944 im brandenburgischen Templin zur Welt und brach mit 17 die Schule ab, um Schauspielerin zu werden. Ihr Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart aber endete schnell: „Ich bin nach zwei Monaten aus der Schule rausgeflogen. Es gab da diese Frau Ellerbriek, bei der sollten wir Improvisation lernen. Wir mussten uns bewegen und stehen bleiben, wenn die Musik aufhört, ein bisschen wie bei Reise nach Jerusalem. Ich bin aber nie stehen geblieben. Ich wollte nicht.“ Sie hat dann privaten Schauspielunterricht genommen und die Bühnenreife-Prüfung abgelegt.

Ihr erstes Theaterengagement bekam sie 1967 in Kassel, spielte dann in Castrop-Rauxel und stand auch vor der Kamera. Peter Stein entdeckte sie für seine Berliner Schaubühne. Winkler spielte dort von 1971 bis 1978.

1979 verkörperte sie in Schlöndorffs oscarprämierten Film „Die Blechtrommel“ Agnes, die Mutter des kleinen Oscar Matzerath. Die große Liebesszene zwischen Agnes und dem von ihr geliebten Polen Jan Bronski nannte der französische Regisseur Louis Malle „die so ziemlich sinnlichste Bettszene, die ich je gesehen habe“. Im Theater hat sie mit den Großen des Fachs zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Luc Bondy, Peter Zadek, Christoph Schlingensief oder Romeo Castellucci.

Winkler ist Mutter von vier Kindern. Ihre Tochter Nele wurde 1982 mit dem Downsyndrom geboren und ist auch Schauspielerin, sie spielt seit Jahren im RambaZamba Theater Berlin. Durch Nele habe sie gelernt, den Mund aufzumachen und zu kämpfen, erklärte Winkler.

2019 erhielt sie den Deutschen Schauspielpreis in der Kategorie Theater für ihre Rolle der Irina in der Inszenierung „Drei Schwestern“ von Karin Henkel am Deutschen Theater Berlin. „Diese irrlichternd magische, unzähmbar eigensinnige, souverän freie Ausnahmekünstlerin … ist das Kraftzentrum dieser Inszenierung“, war in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zu lesen.

In seiner Begründung für die Wahl Winklers sprach Schauspieler Ulrich Matthes von einem Augenblick versammelter Gegenwart in der Ausgestaltung der Rolle: In ihrer Darstellung mischten sich Lebens- und Rollen-Erfahrung – und ließen einen staunen über diese Freiheit, sich ganz dem Augenblick zu überlassen.

1999 wurde Winkler für ihre Rolle als „Hamlet“ in der europaweit gefeierten Inszenierung von Zadek zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Die Proben waren turbulent: Zweimal haute Winkler während der Proben ab und wollte aufgeben, wie sie in ihren Memoiren berichtet. Doch Zadek habe sie zurückgeholt: „Er fand mich nach einer Woche auf einem Bauernhof in den Vogesen, wohin ich von den Proben, die in Straßburg stattfanden, geflüchtet bin. Ich saß auf einem roten Sofa von Freunden, die dort ein Bauernhaus haben. Zadek kam und sagte: ‚Genau so, auf dem Sofa, nehmen wir dich mit.‘ Und am nächsten Tag stand wirklich ein rotes Sofa auf der Probebühne.“

Die bald 80-Jährige ist bodenständig. Abheben ist ihre Sache nicht. Lieber wühlt sie in der Erde und verrichtet Gartenarbeit. Mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wigand Wittig, kauft sie immer wieder alte Häuser, die dann instandgesetzt werden. Mal in Ligurien, am Jadebusen oder an der Elbe, mal in der Auvergne oder in der Bretagne.

2011 veröffentlichte die Künstlerin – die ursprünglich eigentlich auch Sängerin werden wollte – ihr Debütalbum „Ich liebe dich, kann ich nicht sagen“, auf dem sie unter anderem Chansons von Édith Piaf sowie Songs von Element of Crime interpretiert. Und auch hier bleibt sie ihrer Maxime treu: „Es muss nicht alles perfekt sein, das Leben spielt mit dir, und du musst mitspielen.“

Oft wird Winkler als „ewig junge Kindfrau bezeichnet“. 2023 wurde sie mit dem Götz-George-Preis ausgezeichnet, und die Jury erklärte in ihrer Begründung: „Diese Künstlerin lässt die Seele sprechen.“