Sonnenblumen am BER – Hilfe für nicht sichtbar Beeinträchtigte

Reisen sind für beeinträchtigte Menschen oft mit viel Planung, Zeitaufwand und unangenehmen Situationen verbunden. Ein internationales Symbol kann für mehr Unterstützung sorgen – in Deutschland ist es noch wenig bekannt.

Am Berliner Flughafen zieren große Plakate mit Sonnenblumen die Flure. Sie werben aber nicht für Blumenläden, sondern für Aufmerksamkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen. Und es ist Absicht der Kampagne, dass nicht Rollstühle oder Blindenstöcke zu sehen sind. Denn die Sonnenblumen sollen ein Bewusstsein für Menschen erzeugen, denen man ihre Beeinträchtigung gerade nicht ansieht. Dazu gehört Autismus genauso wie Endometriose, Asthma, Multiple Sklerose, Gehörverlust oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. Sie erschweren Menschen den Alltag und auch das Reisen.

Eine von ihnen ist Hannah Kerschbaumer. Sie hat als Kind bei einem Unfall ihren Fuß verloren und trägt eine Prothese. Es nervt sie, wenn Menschen ihr nicht glauben, dass sie eine Behinderung hat. “Ich kann schlecht laufen, nicht lange stehen, nicht gut Sachen heben – das ist schmerzhaft”. All das gehört aber zu einer Flugreise dazu – mit weiten Wegen, Warteschlangen und Treppensteigen.

Ein Flughafen ist ihr “Oberalptraum”, sagt Kerschbaumer. “Wenn ich das Personal anspreche, dass ich nicht so lange stehen kann, passiert meistens etwas, was mir sehr unangenehm ist: Ich muss erklären, warum ich behindert bin.” Die 32-Jährige hat an langen Schlangen zur Sicherheitskontrolle schon ihre Prothese ausgezogen, damit ihr geglaubt wird. “Ich bin zwar hart im Nehmen. Aber es ist nicht angenehm, vor lauter Leuten meine Prothese abzunehmen und meine Behinderung zu zeigen”, sagt sie, die als Influencerin in den sozialen Medien immer wieder das Leben mit Beeinträchtigung und vermeintliche Körperideale thematisiert.

Insgesamt leben in Deutschland rund zehn Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung; mehr als zwei Millionen Menschen gelten als chronisch krank. Inwieweit das äußerlich erkennbar ist, ist schwer zu beziffern. “Das Bild von Behinderung ist häufig, dass jemand Down-Syndrom hat oder im Rollstuhl sitzt”, sagt Dagmar Greskamp, die bei der “Aktion Mensch” arbeitet. Die meisten Beeinträchtigungen seien aber unsichtbar.

Auch sie kennt Herausforderungen, die damit zusammenhängen. “Man kann jung, fit und gesund aussehen und trotzdem im Bus einen Sitzplatz brauchen”, sagt die Inklusionsexpertin, die auch selbst eine nicht unmittelbar sichtbare Beeinträchtigung hat. Meistens mache sie positive Erfahrungen, wenn sie zum Beispiel um Hilfe bittet, ob jemand ihr etwas tragen helfen kann. Manchmal schwinge aber auch die Wahrnehmung mit, dass der oder die Fragende selbst zu faul ist.

Beide Frauen würden sich mehr Bewusstsein für die Vielfalt von Beeinträchtigungen wünschen. Ein Versuch, mehr Aufmerksamkeit auf nicht-sichtbare Beeinträchtigungen zu lenken, sind die Sonnenblumen. 2016 entwickelten Mitarbeitende des Londoner Flughafen Gatwick gemeinsam mit britischen Inklusionsvereinen das Symbol der Sonnenblume. Menschen mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen können sich ohne jegliche Prüfung ein Sonnenblumen-Schlüsselband an verschiedenen Schaltern abholen und es umhängen oder bei Bedarf vorzeigen.

Den Mitarbeitenden soll das diskret signalisieren, dass die Menschen vielleicht mehr Unterstützung, Geduld oder Zeit für die verschiedenen Etappen am Flughafen benötigen. Die Mitarbeitenden können ihr Verhalten anpassen; die Betroffenen müssen nicht – oft mit Scham besetzt – selbst um Hilfe bitten.

In Großbritannien machen inzwischen alle Flughäfen mit, außerdem Fluggesellschaften, Eisenbahnen, manche Supermarktketten, Banken und auch der Fußballclub FC Chelsea. Tritt ein Unternehmen dem “Hidden Disabilities Sunflower”-Netzwerk bei, müssen 80 Prozent der Mitarbeitenden zum Umgang mit nicht-sichtbaren Behinderungen geschult werden. Auch in anderen Ländern wächst das Sonnenblumen-Netzwerk. Entsprechende Seiten in den Sozialen Netzwerken haben hunderttausende Follower; in den Kommentaren werden Positivbeispiele genauso wie Verbesserungsbedarf geteilt.

In Deutschland gibt es die kostenlosen Bänder bisher nur an den Flughäfen in Berlin, Düsseldorf und Hamburg. Der Hauptstadtflughafen BER war Anfang vergangenen Jahres das erste deutsche Unternehmen, das die Sonnenblume einführte. Seitdem seien im Schnitt 10 bis 15 Bänder pro Tag ausgegeben worden, sagt ein Sprecher Auf Anfrage. Es komme viel positives Feedback von Passagieren wie auch von Mitarbeitenden. Für Beschäftigte gebe es regelmäßig Schulungen, außerdem Schulungsvideos und Infomaterial.

Auch der Hamburger Flughafen, der seit einem dreiviertel Jahr die Sonnenblumen-Bänder und -Anstecker anbietet, sieht sie laut einem Sprecher für Reisende wie auch Mitarbeitende als “vollen Erfolg”. Die Nachfrage sei höher als erwartet.

Alle drei Flughäfen verweisen darauf, dass mit dem Band kein Anspruch auf zusätzliche Serviceleistungen verbunden sind. Der Mobilitätsservice, beispielsweise für gehbehinderte Personen, müsse weiterhin vorab gebucht werden. Von Deutschlands größtem Airport in Frankfurt hieß es im Oktober, man beobachte die Sunflower-Bewegung.

Hannah Kerschbaumer hat das Sonnenblumenband bei einem Flug ab Berlin vor ein paar Wochen zum ersten Mal genutzt. Sie habe es am Infostand unkompliziert bekommen. “Ich habe es nicht umgehängt, sondern so in die Tasche gesteckt, dass das Band rausschaute”. Manche Blicke weckten in ihr das Gefühl, dass nach ihrer Behinderung gesucht werde. Ansonsten veränderte sich ihre Reise durch das Band wenig. “Vielleicht haben die Leute es nicht gesehen, vielleicht muss es sich mehr etablieren, vielleicht lag es auch einfach daran, dass die Schlangen nicht lang waren.” Dem Praxistest hat sie das Band also nicht wirklich unterzogen.

Dagmar Greskamp von der “Aktion Mensch” kennt die Sonnenblumen erst seit Kurzem. “Es wäre natürlich schön, ein international einheitliches Zeichen zu haben für etwas, das nicht sichtbar ist”, sagt sie. Oft stehe ein Piktogramm mit einem Rollstuhlfahrer als Zeichen für Behinderung. Sie glaubt, dass sich viele Menschen mit Beeinträchtigung davon nicht angesprochen fühlen, weil sie unsicher sind, ob die jeweiligen Hilfsangebote auch für sie gelten. Greskamp würde sich wünschen, transparenter zu machen, dass es Hilfsangebote zu verschiedenen Erkrankungen und Behinderungen gibt.

Auch Kerschbaumer würde sich über passgenauere Angebote freuen. Im Rollstuhl des Mobility-Services möchte sie nicht über den Flughafen gefahren werden. “Ich will ja mit so wenig Aufwand wie möglich reisen; ich möchte nur nicht unnötig lange stehen.”

Kerschbaumers konkreter Wunsch: “Ich würde mich freuen, wenn ich beim Ticketkaufen angeben könnte, was mir hilft. Das würde mir dann Diskussionen ersparen, zum Beispiel, wann ich in den Flieger gehen darf.” Greskamp hat eine ähnliche Idee: “Konkret beim Buchen abfragen, welche Bedürfnisse an welchen Stationen des Reisens vorhanden sind – das wäre eine Lösung. Und zwar für alle zugänglich. Es gibt auch Menschen mit vorübergehenden Beeinträchtigungen.”

In Großbritannien gibt es seit kurzer Zeit auch personalisierte Sonnenblumen-Ausweise, aus denen konkrete Bedürfnisse hervorgehen – wie zum Beispiel “Ich brauche mehr Zeit”, “Ich kann nicht lange stehen” oder “Ich bin lichtempfindlich”. Im besten Fall ist es damit also individuell möglich, Menschen das Reisen mit weniger Stress, Schmerzen und Risiken zu gestalten. Bis die Sonnenblume oder andere Zeichen bekannter werden, hat Dagmar Greskamp eine einfache Botschaft, wie alle ihre Mitmenschen mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen unterstützen können: “Wenn jemand um Hilfe fragt, dann helfen, nicht zweifeln oder diskutieren”.