So haben deutsche Juden Israel geprägt
Was haben der weltweit tätige Lebensmittelhersteller Strauss-Group, das börsennotierte israelische Pharmaunternehmen Teva und die Bauhaus-Siedlungen in Tel Aviv gemeinsam? Alle wurden von Juden aus Deutschland aufgebaut. „Deutschsprachige Juden, die in den 1930er Jahren ins damals noch unter britischer Mandatsverwaltung stehende Palästina kamen, haben das heutige Israel mehr geprägt als vielen heute bewusst ist“, sagt Jakob Eisler vom Archiv der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Eisler ist selbst Jude und hat sich intensiv mit dem Thema befasst.
Shavei Zion ist ein malerischer Ort an der Mittelmeerküste im Norden Israels – und eine deutsche Gründung. Es waren Juden aus Rexingen (Landkreis Freudenstadt), die dort vor genau 85 Jahren auf der Flucht vor den Nationalsozialisten den Grundstein für ihre neue Heimat legten. Die Umgangssprache in Shavei Zion blieb lange Schwäbisch. Die Protokolle der Dorfversammlungen wurden bis in die 1950er-Jahre auf Deutsch verfasst.
So wie den Rexinger Familien ging es vielen der etwa 70.000 aus Deutschland stammenden Juden, die zwischen 1933 und 1939 ins Land kamen. Sie konservierten ihre Liebe zur alten Heimat nicht nur mithilfe der Sprache. „Sie waren mitunter deutscher als deutsch“, sagt Jakob Eisler. Das Hebräische hätten sie innerlich eher abgelehnt und stattdessen ihre Kultur gepflegt: „Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung und Disziplin – also die klassischen deutschen Tugenden – waren ihnen ganz wichtig.“
Damit machten sie sich nicht nur Freunde. Schnell wurden sie von den Einheimischen als „Jeckes“ verspottet, sogar beschimpft. „Jecke“ komme von den Jacken, die die korrekten Deutschen selbst bei größter Hitze trugen, während die Einheimischen kurzärmelig herumliefen, erklärt Eisler. Der hebräische Begriff „Jecke“ bedeute so viel wie „Sturkopf“.
Die Einheimischen misstrauten den Jeckes. Sie waren vor den Nationalsozialisten geflohen, sprachen aber die Sprache der Täter. „Deutsch war im öffentlichen Leben jahrzehntelang verpönt“, weiß Eisler. „Bis 1985 durfte im Radio keine Musik mit deutschen Texten gespielt werden.“ Vorbehalte habe es auch gegeben, weil die Juden aus Deutschland in den 1930er-Jahren zumeist aus Not kamen, und nicht aus zionistischem Idealismus. Eine typische Frage lautete damals: „Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?“
Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Jeckes für die Entwicklung Israels kann man laut Eisler aber kaum hoch genug bewerten. Sie hätten Kultur, Wissenschaft, Musik, Architektur und die Medien maßgeblich geprägt. So sei der erste Dirigent des Philharmonie-Orchesters in Tel Aviv 1936 ein Deutscher gewesen – William Steinberg. Der erste Präsident des Obersten Gerichtshofs in Israel war der aus Königsberg stammende Moses Smoira. Etliche israelische Zeitungen wurden von deutschstämmigen Juden gegründet oder weiterentwickelt – allen voran die Tageszeitung „Haaretz“.
Die Bauhaus-Siedlungen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem sind jeckische Projekte. Entworfen haben sie jüdische Architekten, die in Dessau ausgebildet worden waren. Deutschstämmige Juden waren im jungen Israel an den Universitäten und in der Bankenbranche anzutreffen, sie arbeiteten als Landwirte und Firmengründer. Die Strauss-Group, einer der führenden Lebensmittelhersteller Israels mit weltweit rund 16.000 Angestellten, wurde Ende der 1930er-Jahre von dem aus Ulm stammenden jüdischen Ehepaar Richard und Hilda Strauss gegründet.
Einen der weltweit größten Hersteller von Arzneimitteln – Teva – rief 1935 der deutsche Apotheker Günther Friedländer ins Leben. Und auch einer der reichsten Israelis – Stef Wertheimer – ist „Jecke“. Der aus Kippenheim (Ortenaukreis) stammende Milliardär hat mit Iscar die größte Metallverarbeitungsfirma Israels aufgebaut.
„Die Juden, die einst hier im Südwesten gelebt haben, waren wie so viele Schwaben Tüftler“, sagt Eisler. „Weil sie hier aber nicht bleiben konnten, haben sie ihre Talente eben in Israel eingebracht.“ Für ihn steht fest: „Ohne die Jeckes wäre Israel nicht das, was es heute ist.“ (2505/20.10.2023)