Sie lernen Gitarre, Klavier oder singen im Chor: In vielen deutschen Gefängnissen können Straffällige an Musikangeboten teilnehmen. Dieses Angebot sollte nach Meinung der Lübecker Musikpädagogin Annette Ziegenmeyer weiter ausgebaut werden. “Während der Sportbereich in Gefängnissen schon sehr gut organisiert ist, hat das Musikangebot noch Luft nach oben”, sagt die Professorin an der Musikhochschule Lübeck.
Dabei habe Musik eine große Kraft: Sie helfe in schwierigen Lebenslagen und könne zu einer sinnstiftenden Freizeitbeschäftigung werden, über die straffällig gewordene Menschen nach ihrer Haft wieder in die Gesellschaft zurückfinden. Mit ihrem Team des durch die Possehl-Stiftung geförderten Projekts “Auftakt – Musik als Entwicklungsressource für straffällig gewordene Jugendliche und Heranwachsende” moderiert Ziegenmeyer die Tagung in Lübeck, um Menschen aus ganz Deutschland zusammenzubringen, die sich mit dem Thema “Musik im Strafvollzug” beschäftigen.
Musik eröffnet Jugendlichen im Arrest neue Perspektiven
“Die Musik dient hier als Ausdrucksmedium, über die Gefühle und Erfahrungen verarbeitet werden können”, sagt die Pädagogin. Durch die Musik könnten die Menschen die Gitter um sich herum mal vergessen. In einem Chor oder in einer Band entwickelten sie ein positives Gruppengefühl und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. “Im Idealfall können sie daran nach der Haft anknüpfen”, erklärt die 49-Jährige.

Seit fünf Jahren kooperiert Ziegenmeyer mit der Jugendarrestanstalt Moltsfelde. Bei der Lehrveranstaltung “Perspektivwechsel” gestalten Studierende Musikwochen mit den dort jeweils arrestierten Jugendlichen. Im Zentrum stehe der Perspektivwechsel für alle Beteiligten und die Erfahrung, dass Musik als Brücke wirke, erklärt die Pädagogin.
In diesen Wochen entstehen etwa gemeinsam geschriebene Songs, die eingesungen und am Ende der Woche dem dort arbeitenden “Publikum” präsentiert werden. Die Musik ebne schnell eine emotionale Ebene, auf der man mit den jungen Menschen ins Gespräch kommen und Vertrauen aufbauen könne, etwa über das gemeinsame Hören von Lieblingssongs sowie der dahinterstehenden Bedeutung.
Knastmusik als Chance: Empowerment hinter Gittern
“Die Öffentlichkeit hört in den Medien vor allem von den Straftaten, die von diesen Menschen begangen werden. Ihre Geschichte erfahren sie aber nicht”, sagt Ziegenmeyer. Die Biografien der jungen Strafffälligen seien brüchig und oft sehr gewaltgeprägt. Viele dieser Menschen hätten keine wirkliche Kindheit erlebt und wären schon von klein auf mit multiplen Problemlagen und ohne Unterstützung aufgewachsen. “Diese Risse können wir mit einer Musikwoche nicht kitten. Aber wir können gute Erinnerungen und empowernde Momente schaffen, die im Leben eine wichtige Rolle spielen können.”
Ein positives Beispiel ist der inzwischen im Norden auch durch seine Musik bekannte Sozialarbeiter Mashood Khan aus Norderstedt. Der ehemalige Strafintensivtäter verarbeitete seine Erfahrungen in der Rap-Musik und schaffte es, sich in die Gesellschaft einzugliedern. “Rap ist meine Therapie, mein Psychologe, es ist meine Art und Weise, mich der Welt mitzuteilen”, sagte Khan einst in einem NDR-Interview. Er wird zu der Tagung in Lübeck ebenfalls erwartet.
Auch Ziegenmeyer erlebt mit ihren Studierenden immer wieder bewegende Momente in der Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen. Einmal habe ein Jugendlicher einen Song für seine Mutter geschrieben. “Ich habe gemerkt, wie der Junge sein Leben in dem Lied verarbeitet hat. Und wie wichtig ihm seine Mutter ist. Das hat mich sehr berührt.”
Knastmusik: Pädagogisches Instrument für schwierige Lebenslagen
Zugleich sei es auch für die Studierenden eine wichtige Erfahrung, mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen. “Sie merken in den Gesprächen, wie wichtig ein unterstützendes Umfeld für das Aufwachsen ist und wie Musik hier als Brücke zwischen Menschen fungieren kann”, erläutert Ziegenmeyer. Dieser Perspektivwechsel würde bei den angehenden Musikpädagogen viel bewirken. “Um zu verhindern, dass junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen in der Schule durchs Raster fallen, muss ich sie verstehen und ihnen unvoreingenommen begegnen.”
