Sind psychologische Krisen manchmal hausgemacht?

Immer mehr Menschen befassen sich mit mentaler Gesundheit. Hilft es, wenn viele um ihre “Baustellen” wissen? Oder ist es mit Sinn- und Selbstsuche auch irgendwann einmal genug? Fachleute sind geteilter Ansicht.

“Wir alle” bräuchten eine Therapie, “weil diese Gesellschaft eine Therapie braucht”: So formulierte es Bestseller-Autor Michael Nast kürzlich in der “Süddeutschen Zeitung”. Andere fordern: Schluss mit der Selbstbespiegelung. “In großstädtischen, jüngeren, moderneren Bubbles gibt es kaum noch Stigmatisierung, im Gegenteil”, beobachtet Gitta Jacob, Psychotherapeutin und Autorin des Sachbuchs “Leben geht nur vorwärts”.

Der Untertitel lautet: “Wann es Zeit ist, das innere Kind in Ruhe zu lassen und durchzustarten”. Das bekannteste Buch zur Arbeit am inneren Kind wiederum dürfte von Stefanie Stahl stammen, Deutschlands wohl bekanntester Psychologin. Stahl sieht ein Missverständnis, wenn ein “therapeutisierter Lebensstil” kritisiert wird: “Ein selbstreflektierter Mensch ist eher wenig mit sich selbst beschäftigt. Menschen sind dann am meisten mit sich selbst beschäftigt, wenn sie ein Problem haben – ob sie nun davor davonlaufen oder sich damit auseinandersetzen.”

Persönliche Entwicklung verstehe sie als “lebenslanges Ziel”, betont Stahl. Auf die Frage, ob Selbsthilfe nicht in manchen existenziellen Situationen an Grenzen stoße, sagt sie: “Natürlich.” Auf schwere Schicksalsschläge habe man kaum Einfluss – auf Beziehungen zu den Mitmenschen dagegen durchaus. Es gehe darum, sich selbst und die eigenen Prägungen zu kennen, einschätzen zu lernen, was man sich zumuten könne und in welchen Situationen man aufpassen müsse.

Abstand zu sich selbst zu finden und zu reflektieren, hält auch Jacob für sinnvoll. “Es sollte aber nicht bei jeder kleinen Macke gegrübelt werden, wo sie genau herkommt.” Eine biografische Herkunft für Verhaltensmuster aller Art werde überbetont – nicht in Fällen von schwerer Gewalt oder Vernachlässigung. Doch Jacob nennt ein anderes Beispiel: “Wenn jemand es etwa bedauert, dass das Gegenüber nach drei Nachrichten auf Tinder nicht mehr antwortet – dann raten manche sofort dazu, die eigenen Bindungsmuster zu prüfen.”

Dabei seien Menschen soziale Wesen, und wenn ein Kontakt abbreche, den man selbst gern fortgesetzt hätte, sei Enttäuschung “stinknormal”. Statt dann über das Verhältnis zu den eigenen Eltern zu sinnieren, solle man akzeptieren, dass Dating-Plattformen nun einemal so funktionierten – und möglicherweise Dampf bei Freunden ablassen, so die Psychologin.

Es auch einmal gut sein lassen – verlernt das eine Gesellschaft, die seit der Corona-Pandemie ständig unter Strom zu stehen scheint? Insbesondere für junge Menschen sei die Corona-Zeit schlimm gewesen, sagt Jacob. Studien deuten auf mehr Angst- und Essstörungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen hin. Einzelne hätten während der Pandemie aber auch – vermutlich unbewusst – Gefallen daran gefunden, “wenig zu tun, nichts üben, nicht zum Sport gehen zu müssen – und über das Internet trotzdem interessant zu bleiben”.

Mentale Gesundheit ist auf Social Media ein großes Thema. Aus Jacobs Sicht ist dies “mehr Fluch als Segen”. Dort werde “ständig Nabelschau” betrieben, und Allerweltstipps wie “umarme dich selbst” nützten ernsthaft erkrankten Menschen wenig.

Manche Fachleute sehen eine Verschiebung des Stigmas: Sucht werde immer noch mit Schuld verknüpft, schwere psychische Probleme würden von Medien häufig in die Nähe von Verbrechen gerückt, schreibt die Psychiaterin Stefanie Schreiter in der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Eine “neue Offenheit”, wie sie gegenüber Depressionen zu beobachten sei, gelte für Sucht oder etwa Schizophrenie nicht. Der “Mental Health”-Trend könne Betroffenen das Leben eher noch schwerer machen: “Für sie ist die Stigmatisierung wie eine zweite Krankheit.”

Selbsthilfeliteratur und “tausende Posts auf Insta” seien “nur sehr begrenzt” eine Hilfe, sagt Moderatorin und Autorin Katty Salie. “Wer durch diese Inhalte das Gefühl hat: Oh, das passt dazu, wie ich mich fühle – der sollte den Schritt einer professionellen Beratung nicht auslassen. So einfach, dass man sich selbst diagnostizieren kann, ist es nicht.”

Salie, die selbst an Depressionen erkrankt war, hat in ihrem Buch “Das andere Gesicht” verschiedenste Geschichten von Prominenten gesammelt, die ebenfalls von dieser Erkrankung betroffen sind. Die unterschiedlichen Facetten finde sie “faszinierend” – und: “Je mehr Menschen offen darüber gesprochen haben, desto mehr hat es mir geholfen, als ich selbst im Loch steckte.”

Bei den sogenannten affektiven Störungen, also etwa Depressionen und Angsterkrankungen, sei der Übergang zwischen gesund und krank fließend, sagt Psychologin Jacob. Für eine Psychotherapie sei letztlich entscheidend, wie sehr eine betroffene Person leide und wie stark sie in ihren Tätigkeiten und Aufgaben eingeschränkt sei. “In der Psychotherapie-Ausbildung müsste daher stärker besprochen werden, ab wann eine Therapie angezeigt und sinnvoll ist.”