Sie fährt wieder

Fast sechs Jahre lang lag die Gorch Fock zur Generalüberholung in der Werft. Es wurde viel darüber diskutiert, ob ein Segelschulschiff überhaupt nötig ist. Militärdekan Ernst Raunig findet: ja.

Die „Gorch Fock“ bei ihrem letzten Aufenthalt in Malaga im Jahr 2014
Die „Gorch Fock“ bei ihrem letzten Aufenthalt in Malaga im Jahr 2014Ernst Raunig

Flensburg. Am 19. November brach das Segelschulschiff „Gorch Fock“ von Kiel aus zu seiner 171. Auslandsausbildungsreise zu den Kanarischen Inseln auf. Bis zum März wird das Ausbildungsschiff unterwegs sein, und ab Januar werden Offiziersanwärterinnen und -anwärter an Bord ausgebildet. Die Naturgewalten auf See zu erleben und gemeinsam mit der Stammbesatzung das Schiff unter Segeln zu fahren, das sind prägende Momente.

Zusammen in einem Boot sitzen und gemeinsam an einem Strang ziehen, das beschreibt die Seefahrt mit der „Gorch Fock“. Das gemeinsame Tun verbindet und lässt die Kameradschaft wachsen. Vorsicht und Achtsamkeit sind gefordert. Das schwimmende Klassenzimmer der Marineschule Mürwik, der Offiziersschule in Flensburg, ist kein ungefährlicher Ausbildungsplatz. 2008 und 2010 war je eine Offizieranwärterin während der Ausbildung ums Leben gekommen. Das gesamte Ausbildungsprogramm wurde danach auf den Kopf gestellt und neu konzeptioniert.

Wer in die Takelage darf

Dazu gehört, dass die Offzieranwärterinnen und -anwärter, bevor sie überhaupt an Bord des Segelschulschiffs gehen, eine Ausbildung an einem Übungsmast in der Marineschule voll gesichert absolvieren müssen. Ein Koordinationsparcours und medizinische Untersuchungen bilden die Grundlage für die Entscheidung, wer überhaupt in die Takelage auf dem Segelschulschiff darf. So können die Ausbildenden schon, bevor die Anwärterinnen und Anwärter an Bord gehen, eine mögliche Höhenangst berücksichtigen.

Aber jede und jeder darf mit an Bord, selbst wenn das „Aufentern“ – also das Aufsteigen in die Masten, um die Segel hoch oben in den Quermasten zu lösen oder festzumachen – nicht gestattet wurde. An Bord werden alle gebraucht – da zieht man halt unten an Oberdeck an den Seilen und Tampen und bringt so Segel und Rahen in die richtige Position.

Naturgewalten auf dem Schiff

Die jungen Leute erleben hautnah, wie Naturgewalten auf das Schiff wirken, ob nun oben in den schwankenden Masten oder unten an Deck, das von der See überspült wird. Dazu kommt, dass das Leben an Bord Verzicht bedeutet. Zum Beispiel lebt die Besatzung auf sehr engem Raum zusammen, Gemeinschaftsräume und Sanitäranlagen werden durch viele gemeinsam genutzt. Das erfordert Geduld. Der persönliche Bereich ist sehr eingeschränkt – schließlich schlafen die jungen Soldatinnen und Soldaten in zwei bis drei Lagen übereinander in Hängematten, und allen steht jeweils nur wenig Stauraum – auch für die persönlichen Dinge – zur Verfügung.

Das will vorbereitet sein. Und so gibt es eine zwei Wochen lange und gründliche Segelvorausbildung im Hafen. Dabei übernimmt die Militärseelsorge eine wichtige Aufgabe. Mein katholischer Kollege Mirko Zawiasa und ich als evangelischer Militärdekan begleiteten im Wechsel die Stammbesatzung der „Gorch Fock“ und die Offzieranwärterinnen und -anwärter die gesamte Zeit im Hafen – auch während der knapp sechsjährigen Werftphase des Schiffes.

Immer ansprechbar für die Besatzung

In der Werft besuchten wir die Stammbesatzung auf deren Wohnboot, dem „Knurrhahn“, und begleiteten die künftigen Offziere während ihrer Ausbildung auf dem rumänischen Segelschulschiff „Mircea“ und auf dem deutschen Ausbildungsschiff „Alexander von Humboldt II“.In dieser Zeit, aber auch davor während der Ausbildungsreisen der „Gorch Fock“ von 2013 bis 2015 und natürlich auch jetzt wieder begleitet und unterstützt die Militärseelsorge. Seelsorgegespräche mit allen an Bord, oft in einer ruhigen Ecke, Gottesdienste und Andachten, „Lebenskundlicher Unterricht“, Betreuung im Hafen, das alles beschreibt das breite Aufgabenspektrum.

Zurzeit ist pandemiebedingt vieles eingeschränkt, zum Beispiel der Landgang. Damit entfällt der Ausgleich und die Gelegenheit, auch einmal Abstand zu nehmen vom Dienst. Die Sorge um die Familie und die Freunde zu Hause ist ein ständiger Begleiter während der langen Abwesenheit – für die Stammbesatzung vier Monate und für die Anwärterinnen und Anwärter sechs Wochen.

Zuweilen wird das Deck der „Gorch Fock“ zur Kirche und ein Podest zum Altar
Zuweilen wird das Deck der „Gorch Fock“ zur Kirche und ein Podest zum AltarErnst Raunig

Die Vorausbildung bildet auch dort den Grundstock für das Gelingen der anschließenden Seefahrt. Als Militärseelsorger machen wir die Erfahrung, dass sowohl die seelsorgerliche als auch die lebenskundliche Begleitung während dieser Zeit eine wesentliche Rolle spielen.

Zunächst geht es darum, dass die Anwärter gut auf dem Segelschulschiff ankommen. Erwartungen, aber auch Ängste werden im „Lebenskundlichen Unterricht“ in der großen Gruppe oder auch in Kleingruppen sowie in Zweierteams thematisiert. Dazu dient beispielsweise die „Lebenslinien-Methode“, bei der sich jeweils zwei Personen ihr Leben erzählen und gemeinsam erarbeiten, welche Werte sie aufgrund persönlicher Erfahrungen besonders prägen.

Anwärter tauschen sich aus

Im dritten lebenskundlichen Seminarteil bereiten sich die Offzier­anwärterinnen und -anwärter auf die Seefahrt vor. Die Anwärter tauschen sich untereinander aus, formulieren gegenseitig positive Wünsche und übernehmen füreinander in einer Art Buddy-Prinzip Verantwortung. Es geht darum, aufeinander zu achten und Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Die Anwärterinnen und Anwärter lernen, ihr Augenmerk auf den Einzelnen zu lenken und ihr Mitgefühl zu stärken, um so zu erkennen, ob jemand einsam oder isoliert wirkt oder mit eigenen Gedanken und Problemen allein überfordert ist. Das Seelsorgekonzept stärkt den Umgang mit persönlichen Grenzen. Den künftigen Offizieren soll nahegebracht werden, aufmerksam mit sich und anderen umzugehen, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennenzulernen und auch auf die der anderen zu achten.

Zu Silvester aufs Schiff

Am Ende der Segelvorausbildung im Hafen steht das sogenannte Nachtsegeln, so etwas wie die Abschlussprüfung. Vorher halten wir an Bord einen Gottesdienst, bei dem das irische Segenslied „Möge die Straße uns zusammenführen“ gesungen wird. Das ist der Reisesegen für alle an Bord im Vertrauen darauf, dass Gott die Seefahrt der „Gorch Fock“ begleiten und alle an Bord beschützen und behüten möge.

In den nächsten Tagen werde ich auf der Kanarischen Insel Teneriffa an Bord der „Gorch Fock“ gehen und mit der Stammbesatzung des Segelschulschiffes den Jahreswechsel verbringen. Beim Altjahresgottesdienst werde ich den Frauen und Männern das Gedicht von Dietrich Bonhoeffer mit auf den Weg ins Jahr 2022 geben:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Unser Autor
Ernst Raunig ist Militärdekan im Militärpfarramt Flensburg.