«Sehnsucht nach Trauer»

Drei Fragen an den Theologen Reiner Sörries zur Bewältigung von Unglück und Terror.

Frankfurt a.M. (epd). Die öffentliche Anteilnahme nach Unglücken oder Terrorakten wie in Hanau nimmt nach Ansicht des Trauer-Experten Reiner Sörries zu. «Man gewinnt den Eindruck, dass beinahe jede Gelegenheit wahrgenommen wird, um in dieser Art zu trauern», sagte der frühere Direktor des Kasseler Museums für Sepulkralkultur zu Sterben, Bestatten und Gedenken dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Vor allem «fremde» Anlässe seien ein Ventil für «jene Trauerreaktionen, die wir uns im persönlichen Bereich versagen». Sörries (67) ist Mitherausgeber des Fachmagazins «Leidfaden» für Krisen, Leid und Trauer (Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag) und außerplanmäßiger Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen.

epd: Nach Anschlägen wie in Hanau ist die öffentliche Anteilnahme groß. Viele sprechen inzwischen von einer Art «Event-Trauer» mit Blumenmeeren und Kerzen und zur Schau gestellten Emotionen. Sehen Sie da einen Trend?

Reiner Sörries: Die Formen öffentlicher Anteilnahme nehmen in der Tat zu. Man gewinnt den Eindruck, dass beinahe jede Gelegenheit wahrgenommen wird, um in dieser Art zu trauern. Das hat sich in den letzten Jahren so entwickelt. Historisch gesehen gab es solche öffentliche Trauer erstmals beim Tod des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, der 1986 ermordet worden war. Hier kamen am Ort des Attentats Tausende von Menschen zusammen und
hinterließen ein Blumenmeer. In der Folge steigerten sich die Anlässe für kollektive Trauer, die manchmal geradezu gesucht werden. Ich erinnere daran, dass es sogar 2011 beim Tod des Berliner Eisbären Knut solche Trauer-bekundungen gab. Man kann daraus auf eine Sehnsucht nach Trauer schließen.

epd: Warum stürzen sich viele Menschen heute in kollektive Gefühle
wie Trauer oder auch in Empörung?

Sörries: Zunächst war es ein gesellschaftlicher Lernprozess, auf schlimme, tödliche Ereignisse so zu reagieren. Zunehmend fanden sich Menschen ein und trauerten um Opfer, die sie persönlich gar nicht kannten. Somit handelt es sich um eine andere Form von Trauer als beim Tod eines nahen Verwandten, eines geliebten Menschen. Die Schwelle von der Trauer zur Empörung ist dann niedrig, wenn Schuldige an den Vorkommnissen auszumachen sind. Dabei ist die Suche nach Schuldigen elementar, weil für den Tod von Menschen immer jemand verantwortlich sein muss. Dann ist der Tod, der eigentlich nicht sein darf, leichter zu ertragen.

epd: Bietet das öffentliche Trauern für viele Menschen die Möglichkeit, Emotionen zu zeigen, die sie in ihrem Alltag sonst nicht zeigen können? Ist diese Anteilnahme wirklich so selbstlos?

Sörries: Tatsächlich sind die Menschen bei persönlichen Verlusten eher geneigt, Stärke statt Schwäche oder Trauer zu zeigen. So will man sich etwa beim Verlust des Arbeitsplatzes, bei der Trennung von einem Partner oder einer Partnerin nichts anmerken lassen. Selbst beim Tod eines nahestehenden Menschen halten viele Menschen heftige Trauerreaktionen eher zurück. Es gibt also viele Momente für Trauer im Leben, die wir nicht zeigen. Umso mehr ist Trauer eben bei «fremden» Anlässen erlaubt, und sie sind ein Ventil für jene Trauerreaktionen, die wir uns im persönlichen Bereich versagen.