Sehenswertes Arte-Drama von Dominik Graf zum Thema Einsamkeit

Die forensische Biologin Inga hat sich ihrer Arbeit in einer Wolfsburger Pathologie verschrieben. Ein Falke und eine plötzlich auftauchende vermeintliche Halbschwester holen die spröde Frau aus ihrer Isolation.

Dominik Graf ist ein Regisseur der Umwege, Irritationen, Verzögerungen – und insofern ein Meisterregisseur des Lebens selbst. Da verfährt sich die Hauptfigur kurz, ohne dass dies dramaturgisch „verwertet“ würde. Oder deren Kollegen blödeln in einer Arbeitssitzung herum, ohne dass das eine unmittelbare Bewandtnis für die Story hätte. Der Film hat in seinem Realismus eine geradezu dokumentarische Anmutung, scheint gelegentlich fast improvisiert zu sein. Und doch kann man sich sicher sein, dass Graf bei seiner Inszenierung nichts dem Zufall überlassen hat.

Stimmig und ästhetisch in sich geschlossen wirkt das Drama „Mein Falke“, das Arte am 24. November von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt – und ist zugleich von einer flirrenden Durchlässigkeit. Der Münchner Regisseur vereint scheinbar Widersprüchliches, inszeniert niemals „straight“, glatt, vorhersehbar. Ebenso wenig setzt er Geschichten in Szene, die man in einem Satz hinreichend zusammenfassen könnte.

In „Mein Falke“ geht es um Einsamkeit und Annäherung, den Tod und das Leben, Erinnerung und Herkunft, Nähe und Distanz, Familie und Freundschaft, Gefangenschaft und Freiheit, Geduld, Zeit und Vergänglichkeit. Die vielfach preisgekrönte Beate Langmaack schrieb das gelungene Drehbuch. Dessen Themenpalette reicht von Ermittlungen zu einem tot im Wald aufgefundenen Baby über schwierige familiäre Verhältnisse hin zu niederländischen Zwangsarbeitern während der NS-Zeit und dem unendliche Geduld erfordernden Zähmen eines Raubvogels.

In der Verbindung der weiblichen Hauptfigur Inga zu ihrem Falken „Giovanni“ kulminieren die hier verhandelten Motive: Der Weg von der Isolation in die Auseinandersetzung mit einem anderen Lebewesen, die Notwendigkeit des Vergehens von Zeit – eben um sich einander anzunähern, aber auch, um Wunden zu heilen. Und um die Frage, wie viel Freiheit und Distanz, aber auch wie viel Nähe eine Beziehung braucht, um leben und atmen zu können.

Die forensische Biologin Inga (Anne Ratte-Polle) bildet das Zentrum des Films, kaum eine Szene kommt ohne sie aus. Die spröde Frau in mittleren Jahren hat sich voll und ganz der Arbeit in der Wolfsburger Pathologie verschrieben, ihre Ehe ist schon vor einer Weile gescheitert. Als ihr ewig vorwurfsvoller Vater (Jörg Gudzuhn) sie mit einer bis dato unbekannten vermeintlichen Halbschwester (Olga von Luckwald) konfrontiert, bringt dies zusammen mit weiteren Vorfällen das fragile Gleichgewicht von Ingas Leben ins Wanken.

Daran hat auch der junge Raubvogel seinen Anteil, den sie von einem befreundeten Züchter übernimmt: Die Anwesenheit dieses lebenden und unberechenbaren Organismus in ihrem bislang von Toten geprägten Dasein ändert für Inga fast alles.

„Mein Falke“ spielt im Sommer, doch es ist kein strahlend blauer Himmel, der sich über die Story spannt. Es ist ein Sommer, der Verblühtsein und Melancholie atmet, sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst ist – und trotzdem schön ist. Ein treffendes Bild auch für Inga und ihr Leben, die unterkühlten und beschädigten Beziehungen ihrer Vergangenheit, und das wärmere, von neuer Nähe geprägte Jetzt. Hendrik A. Kley hat die atmosphärischen Bilder eingefangen, die auch das Setting – Wolfsburg und seine flache, von Wäldern, Feldern und Seen geprägte Umgebung – stimmungsvoll transportieren.

Überzeugend zudem die Instrumentalklänge auf der Musikspur, dazu der wiederkehrende Song „My house so empty like that hole in my soul…“. Absolut eindrücklich ist die Performance von Anne Ratte-Polle – ebenso wie die anderen schauspielerischen Leistungen: Sie gibt diese nicht eben sympathische, zwanghafte, emotional eher unbegabte Frau und deren wachsende Lust auf Kontakt, Beziehung, Austausch schlichtweg fulminant. „Lebendige Menschen interessieren dich doch gar nicht!“, wirft der Vater Inga einmal vor. Die aber zeigt, dass das nicht stimmt. Und dass an dem Wandspruch in der Pathologie – „Mortui vivos docent“, „Die Toten lehren die Lebenden“ – viel dran ist.